Neoliberale Angstmacherei. Auf die haben es Vermögensforscher und Psychotherapeut Martin Schürz und Markus Marterbauer von der Arbeiterkammer Wien in ihrer heuer erschienenen Ideologiekritik abgesehen. Schürz hat auf der Augustin-Couch Platz genommen.
Interview: Reinhold Schachner
Foto: Mario Lang
Sie sind Ökonom und Psychotherapeut. Somit müssten Sie für Wohlhabende, die in Anbetracht der hohen Inflation Angst um ihr Vermögen haben, der prädestinierte Therapeut sein. Werden Sie jetzt von reichen Menschen kontaktiert, um ihnen die Verlustängste zu nehmen?
Martin Schürz: Nein, das ist überhaupt nicht der Fall, denn ich bin Kinderpsychotherapeut und arbeite in einem Ambulatorium, in das viele arme, traumatisierte Kinder kommen, aber keine Immobilienbesitzer:innen mit ihren Verlustängsten. In unserem Buch argumentieren wir, dass Verlustängste etwas Nachgeordnetes sind. Um diese zu bekommen, muss man bereits etwas besitzen. Die Kinder, die ins Ambulatorium kommen, haben Ängste, ob ihre Eltern bis zum Monatsende mit dem Geld auskommen oder ob sie delogiert werden. Ich stoße hier neben den klassischen Angststörungen auf elementare Armutsängste.
Warum rücken Sie den Begriff Angst in den Vordergrund? Schon der Buchtitel lautet «Angst und Angstmacherei».
Ich beobachte in meiner Arbeit, dass die Anzahl an Angststörungen in Kombination mit Depression irrsinnig ansteigt, was auch wissenschaftlich ein einhelliger Befund ist. Die Angst, die Menschen haben, kann von neoliberaler Politik genutzt werden, um ihre eigenen Anliegen durchzubringen. Bspw. Angst machen, keine Pension zu kriegen, weil das öffentliche System zusammenbrechen würde, und man daher selber vorsorgen müsse. So können private Fonds leichter Geschäfte machen. Wir wollen als Ökonomen zeigen, wie Wirtschaftspolitik Ängste formt und prägt. Das sind vermeidbare Ängste, wie Status- und Versagensangst, die im Neoliberalismus besonders oft kommen. Zuerst erzählt man den Leuten, es geht um Freiheit. Aber was heißt hier Freiheit? Mehr Privateigentum, wie ein eigenes Haus. Wenn man das nicht erreicht – und heutzutage erreicht das fast niemand mehr, außer man erbt – kommen Ängste auf.
Sie behaupten, dass sogar der Staat in bestimmten Bereichen unseres Lebens bewusst Angst verbreiten würde. Nun leben wir weder in einem Regime noch in einer Diktatur, sondern in einer Demokratie. Warum soll unser demokratischer Staat Angst verbreiten?
Der Staat will bestimmte Verhaltensweisen. Ein gutes Beispiel ist die Geschichte von der Arbeitskräfteknappheit. Hier verschiebt sich die Macht vonseiten des Kapitals zur Seite der Arbeit, weil wenn niemand nachbesetzen kann, können die Arbeitssuchenden bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne verlangen. Gewollt wird, dass die Leute mobil sind, von Wien nach Vorarlberg in die Gastronomie wechseln. Bei der Idee der Vermögenssteuern bekommen Leute, die selbst kein Vermögen besitzen, die Angst, dass ihnen etwas weggenommen wird. Das ist schwer zu verstehen, wie gut das funktioniert, dass sich Leute, die selber nichts besitzen, sich um die Belange der Eigentümer:innen bemühen.
Verstehen Sie Ihr Buch als Kampfschrift? Immerhin schreiben Sie an mehreren Stellen von «Verteilungskämpfen» und zitieren Nancy Frasers Schlüsselbegriff «Grenzkämpfe».
Nein, es wäre vermessen, sich selbst so zu erhöhen und zu sagen, das sei eine Kampfschrift und dabei behaglich im Sofa zu sitzen und einen Kaffee serviert zu bekommen (in der Augustin-Redaktion, Anm.). Aber soziale Veränderungen gehen über soziale Kämpfe, daher ist der Begriff von Nancy Fraser sehr wichtig. Es ist nicht nur der Grenzkampf Arbeit – Kapital, es gibt viele Auseinandersetzungen, wo es um die Frage geht, wer wie viel Macht erhält. Unser Buch basiert auf Judith Shklars Liberalismus von unten. Wir wollen wenigstens sicherstellen, dass nicht nach unten getreten wird, ohne dass man es sieht. Unser Buch soll Gemeinheiten offen benennen, soll Ideologiekritik sein. Es wird Tacheles gesprochen und das Gerede von Anreizen demaskiert. Uns ist aber auch klar, dass draußen niemand darauf wartet, alles einzuführen, was wir zwei Ökonomen fordern. Oder dass Reiche plötzlich sagen «Aha, ich habe ja gar nicht gewusst, dass ich so viel habe» und sich jetzt ändern werden. Wir wollen eine öffentliche Debatte, und wir halten Widerspruch aus.
Sie formulieren eine Forderung sehr großzügig, diese lautet: «Solange es Armut gibt, darf es keine Milliardär:innen geben.» In der Augustin-Position müsste es keine Millionär:innen heißen.
Vor ein paar Jahren habe ich das Buch Überreichtum geschrieben. «Es gibt ein Zuviel», ist darin der Punkt, der den Leuten damals noch zu viel war. Jetzt sind wir einen Schritt weiter und sagen: «Keine Milliardäre.» Das ist eine plakative Zahl, die aber klar machen soll, es gibt ein Zuviel. Ob das jetzt bei einhunderttausend, bei einer Million oder bei einer Milliarde beginnt, darüber muss eine gesellschaftliche Debatte geführt werden. Hätten wir den Millionärsbegriff – der im 19. Jahrhundert für Exklusivität stand – verwendet, würde eine Vermögensverteidigungsindustrie sofort den Diskurs umlenken: «Stellen wir uns vor, ein tüchtiger Kleinunternehmer … », dann sind wir bei einer Diskussion zu Häusern, wo wir nicht hin wollen. Ich bin seit 20 Jahren Vermögensforscher und meine Erfahrung ist, dass jede vernünftige Debatte zu diesem Thema schwierig ist.
Wer steckt hinter der Vermögensverteidigungsindustrie?
Der Begriff stammt von Jeffrey Winters. Diese Industrie setzt sich zusammen aus Steuerberater:innen, die zeigen, mit welchen Konstruktionen Steuern minimiert werden können. Aus Rechtsanwält:innen, die Kritiker:innen einschüchtern. Aus einer Presse, die den Interessen der Vermögenden einen für reiche Menschen günstigen Spin gibt. Dahinter stecken aber auch technokratisch orientierte Expert:innen, die selber vor Karriereeinbußen Angst haben oder Politiker:innen, die nach ihrer Laufbahn meist im Finanzsektor landen und dort abcashen wollen.
Ist darunter auch der «Sozialismus der Reichen» zu verstehen?
Darunter verstehe ich staatliche Unterstützungen nach der Bankenkrise 2008 und während der Pandemie, welche bereits reichen Menschen gewährt wurden. Unter dem Schlagwort «rasche Hilfe» hat man zu wenig darauf geschaut, ob Unternehmer:innen überhaupt hilfsbedürftig sind.
Die Erbschaftssteuer ist noch immer ein Reizwort, ich habe das selber erst jüngst in einer Diskussion im Freund:innenkreis erleben dürfen. Da kam der Vorschlag, viel besser als eine Erbschafts- wäre eine Finanztransaktionssteuer.
Weil es um Familienbelange geht, ist es so ein schwieriges Thema. Die Familie ist ein Ort der Bevorzugung, man will die eigenen Kinder in vielerlei Hinsicht unterstützen. Die wenigsten denken darüber nach, ob sie ein armes Kind aus Gerechtigkeitsüberlegungen heraus unterstützen sollten. Die Familie ist eigentlich ein Hindernis für die Verfolgung sozialer Gerechtigkeitsziele. Wenn ich für die Erbschaftssteuer eintrete, akzeptiere ich, dass ich die eigenen Kinder nicht mehr so bevorzugen kann. Schon im Jahr 2008 haben Markus (Marterbauer, Anm.) und ich die Initiative Ökonomen für Erbschaftssteuer gestartet. Damals hat es auch eine Initiative gegen Hundehäuferl gegeben, die viel beliebter gewesen ist, wie der Falter geschrieben hat. Und es hat auch gestimmt, denn die gibt es in Österreich immer noch nicht. Aber wer gegen die Erbschaftssteuer ist, ist für die Bevorzugung der Reichen, denn vererbt wird in reichen Familien.
Sie fordern eine zweckgebundene Erbschaftssteuer, u. a. für die Elementarpädagogik. Im Buch beschäftigen Sie sich auch mit Kinderarmut. Warum dieser Fokus auf Kinder?
Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind. Das soll nicht entkoppelt werden. Arme Kinder wissen wahnsinnig früh, dass sie die schlechtesten Karten haben, dass kein guter Platz für sie vorgesehen ist. Das Gerede von Chancengleichheit ist ein Unsinn, und das wissen bereits meine Therapiekinder. Wir wollen daher eine Null-Armut-Strategie. Markus und ich rechnen vor, dass die nur zwei Milliarden Euro kosten würde, ein relativ bescheidener Betrag für ein extrem wichtiges Ziel. Die Mindestsicherung ist nichts Teures, aber man macht’s trotzdem nicht. Warum nicht? Da sind wir wieder beim Angstmachen. Die Leute unten sollen wissen, dass es kein Glück jenseits der Lohnarbeit gibt – außer für reiche Erb:innen, für die ist es selbstverständlich.
Markus Marterbauer & Martin Schürz:
Angst und Angstmacherei. Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht
Zsolnay 2022
383 Seiten, 26 Euro, E-Book: 19,99 Euro