Zuerst fiel er tief, jetzt fällt er auf: Kolporteur Gerhard HostnikerHeroes

Packerl für paffe Passanten

Wenn Bankangestellte schrille Gummistiefel und ein Blinklicht tragen müssten, würde Gerhard Hostniker wieder seine Krawatten hervorholen. Wenn er sie noch hätte. Wenn der Augustin ein Kochbuch wäre, würde Gerhard nicht Omas Rezepte unter seiner Stammkundschaft verbreiten. Porträt eines „im Alter“ doch noch zum Hippie gewordenen Augustinkolporteurs.An die Jeansjacke sind vier Figürchen aufgenäht: ein Koch, ein Kellner, ein Maler- und Anstreicher und ein Schmied. Das Hemd ist bedruckt mit Romeo-und-Julia-Motiven. An der Haube, jedoch am Hinterkopf, blinkt ein Fahrradblinklicht. In der fischförmigen Tasche befinden sich Zuckerl. Die Kinder, angeblich durch noch ungebrochene Phantasie erfinderisch, nennen ihn „Fahrrad“ oder „Fischtasche“. Bei guter Laune trägt Gerhard zwei verschiedene Gummistiefel. Der eine ist hellblau-weiß-pink gestreift, der andere schwarz mit pinkfarbenen Tupfen. Zu unserem Interview erscheint er in guter Laune.

Gelegentlich sitzt ein serbisch sprechender Papagei auf seiner Schulter, wenn er durch sein Grätzl spaziert. „Er gehört meiner Nachbarin, die Serbin ist und Bratislava heißt“, versichert er uns. Der Vogel, der an Gerhards Haar knabbert, macht ihn vollends zu einem ebenso auffallenden wie herausgefallenen Objekt, das die einen befremdet und stutzig macht, die anderen bezaubert, die dritten verstummen lässt oder verlegen macht, jedenfalls niemanden unbeeindruckt lässt. Gerhard liebt es, sich daneben zu benehmen: „Ich bin 53. Ich habe die erste Hippiezeit also miterlebt. Mein Beruf zwang mich, krawattiert durchs Leben zu gehen und mir die Haare zu schneiden. Heute habe ich die Freiheit, Althippie zu sein.“

Die vier Berufe an der Jeansjacke verweisen auf eine Familienangelegenheit. „So hab ich meinen Opa immer bei mir, von dem die kleinen Figuren stammen“, erklärt Gerhard. In gewisser Hinsicht ist auch seine Oma immer präsent. Sie ist verkörpert durch die Kochrezepte, die ebenso wie das Outfit einen Augustinverkäufer zum Original machen. Gerhard legt Kochrezepte in die Zeitungsexemplare, die er bei sich hat. Jede Woche ein neues. Sie liegen gleich zwischen Seite 2 und 3, am Anfang des Blattes. „Was gibt’s denn diese Woche?“, fragen seine Stammkunden. Die Kopien zahlt er selbst. Gerhard ist einschlägig vorbelastet. Seine Oma lernte bei der alten Frau Sacher. 1920 emigrierten Oma und Opa nach Argentinien. Oma hat ihm alle ihre Kochbücher hinterlassen. Zu den Rezepten gibt er KundInnen auch Tipps, wo so rare Ingredienzien herzukriegen sind – wie eingeräucherter Tofu.

Der Arzt diagnostizierte schwere Platzangst

Seit sechs Jahren verkauft Gerhard Hostniker den Augustin. Für einen, der 25 Jahre lang als Textilvertreter selbständig war, ist das ein, milde ausgedrückt, auffallender Positionsverfall. Ein Wechsel von Verkauf zu Verkauf zwar, jedoch in die falsche Richtung, wie anständige Menschen urteilen würden. Der initiierende Moment des Wechsels geschah örtlich kurz vor der Grazer Messe. Der motorisierte Herr Textilvertreter geriet in einen Stau, fing im Auto – obwohl dieses alles andere als ein Trabi war – zu schwitzen an und schlitterte binnen Sekunden in einen körperlichen Zustand, der den Symptomen des Herzinfarkts entsprach. Der Arzt diagnostizierte schwere Platzangst, Klaustrophobie bei organischer Gesundheit. Erst dadurch wurde ihm klar, warum er oft in seinen teuren Autos „wie eine tote Fliege“ gesessen war.

Sechs Jahre lang laborierte er an dieser Diagnose. Zunächst war er noch bei Kassa und konnte sich einen Psychiater leisten. „700 Schilling pro 25 Minuten.“ Als er nur noch grundversichert war, ersetzten die Tabletten den Seelenklempner: 15 Tabletten am Tag. „Du schaust ins Norrnkastl“: Erst als nach jahrelangem Psychopharmakagebrauch sich ein lieber Freund über den Blick eines geistig Abwesenden erschreckte, setzte dieser von heute auf morgen die Pillenfestspiele ab.

Bei der Scheidung von seiner Frau unterlief den beiden wegen unnötiger Hudlerei, wie Gerhard sagt, ein formaler Verzicht des einkommenslosen Ex-Gatten auf eine Unterstützung durch die wohlhabende Ex-Gattin. Was Gerhards Abschied von der Welt des Geldes beschleunigte. „Man könnte das Verfahren wieder aufnehmen, aber ich will die Frau nicht belasten, sie war gut zu mir“, sagt Gerhard. Die 600 Euro Unterstützung, die ihm so Monat für Monat entfällt, kompensiert er nun durch Augustin-Kolportage, durch Küchenhilfe und durch Besprechen von DVDs.

Gerhard wurde im Zuge seiner laufenden Erniedrigung obdachlos und fand in einem Caritas-Haus Quartier. In dieser Periode stieß er zum Augustin. Heute ist er Mieter einer 33-Quadratmeter-Wohnung, in der eine japanische Weide, ein Ringlottenbaum und anderes Gesträuch sowie vom Wasserpark herangekarrte Flusssteine ein Biotop bilden, das nicht weniger skurril erscheint als der zeitgeistwidrige Bekleidungsstil.

Der „freigiebigste Sandler der Stadt“

Der Verkaufsplatz ist der Westbahnhof, Abgang U6 / U3. Gerhards Stammkunden haben’s fein. Nicht nur auserlesene Kochrezepte bekommen sie als Draufgabe, wenn sie die Zeitung erwerben, sondern auch andere kleine Geschenke, die Gerhard meist selbst zubereitet. Zum Beispiel Engerl aus Nudeln. Oder Miniaturen aus Ton. Weil Gerhard die Geburtstage seiner Stammkunden notiert, kann er ihnen die entsprechende Überraschung bereiten. Herzlich eingepackt noch dazu, mit Beilagen wie getrockneten Rosen. Anlässe wie Ostern oder Weihnachten verlangen nach Massengeschenken; der Kolporteur lässt sich dann gerne von Zuckerlfirmen in Naturalien sponsern. Eine Anhängerin backt Kekse, die Gerhard bei solchen Gelegenheiten verteilen kann. Ein durch Vertretererfahrung schlau gewordener Verkäufer in der Rolle des „freigiebigsten Sandlers der Stadt“? Es handelt sich nicht um eine Rolle und auch nicht um das Prinzip des Gebens und Nehmens, meint Gerhard. Sicher fließe auch Trinkgeld in die Gegenrichtung, aber weniger dieses, sondern die Freude am Freudemachen sei der Stimulus solchen Handelns. Denn der Schmattes ist willkommen, aber kein Gegenwert für die vielen nächtlichen Stunden, in denen er tüftelt und seine überraschenden Gaben für die treuen Augustin-LeserInnen vorbereitet.

Es gibt Kunden, die sagen: „Behaltens Ihnen die Zeitung“. Gerhard ist aber überzeugt, dass 80 Prozent der KäuferInnen den Augustin auch lesen. Ihn selber interessieren vor allem die „StrawanzerIn“-Veranstaltungstipps von null bis sieben Euro und die Werkstatttexte, „damit ich meine KollegInnen kennen lerne“.

Seit er die Krawatte mit den schrillen ungleichen Stiefeln und dem Blinklicht vertauscht hat, ist er aus dem Habenwollen in das Seinwollen geraten. Halb aus Not, halb aus Bewusstheit. Wer sein will, ist immer näher an der Kunst, als wer haben will. Gerhard spielt Gitarre (musikalischer Favorit ist Paco de Lucia) und malt in pointilistischem Stil. Weil er das alles – und die liebevolle Produktion der Packerl, die er den nächsten Geburtstagskindern schenken wird – oft in die Nachtstunden verlegt, seit er nur noch drei, vier Stunden Schlaf braucht, hätte es eine bei ihm lebende Partnerin schwer: „Ich will nur noch allein wohnen.“ Andererseits: Gerhard sucht Frau. Eine, die ihn samt seiner Lust zur Abweichung nimmt. Zufällig wäre die Nebenwohnung frei.

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