Zum Dasein verurteiltArtistin

Mit Zwang legt die Schweizer Zeichnerin Simone F. Bau-mann ein bemerkenswertes Comicdebüt über Depression vor. In den düsteren Fantasien ihrer Protagonistin nistet jede Menge explosives Material.

TEXT: MARTIN REITERER
ILLUSTRATION: SIMONE F. BAUMANN

«Schuldig». Ein Gerichtssaal mit Blick auf einen Richter und eine Richterin mit klassischen Lockenperücken. In der Mitte die Angeklagte, eine junge Frau, auf einem Hocker sitzend. Ein Schwenk ins Publikum. Fünf Mal ist das Wort «schuldig» auf den beiden ganzseitigen Panels zu lesen. Hektisch wechselnde Details zeigen auf der folgenden Seite die Hand eines Richters, der einen Hebel bedient, so dass sich unter den Beinen der Angeklagten eine Falltür öffnet. Im Sturz versucht diese sich am Rand der Öffnung festzuhalten, was die richterlichen Beamten allerdings verhindern. Gleich Alice im Wunderland stürzt die Angeklagte in ein bodenloses Loch. Kleine Details am Rande – ein Spinnennetz, ein Totenschädel, ein Gerippe, eine Maus – zitieren Embleme der Vergänglichkeit. In ihrer makabren Groteskheit wirken sie wie ein ironisches Gegengift zu dem ernsten Geschehen. Nach dem Umblättern sieht man die verschlossene Falltür an der Decke eines Zimmers, in dem die zuvor verurteilte Frau auf dem Bett liegt und erstaunt den Blick nach oben richtet.
Es ist eine fulminante Eröffnung. In Simone F. Baumanns Comicdebüt Zwang wandelt eine junge Frau durch Episoden und Traumsequenzen, die, eingebettet in alltägliche Situationen, unvermittelt surreale und groteske Verläufe nehmen. Die Bilder und Szenen sind oftmals allegorisch, wie in der beschriebenen Eingangsszene, in der die Hauptfigur regelrecht ins Leben hineingeschleudert und zum Dasein verurteilt wird. Während Josef K. «eines Morgens verhaftet [wurde], ohne dass er etwas Böses getan hätte», hat die junge Frau den Prozess bereits hinter sich. Sie ist verurteilt, mit einer unbekannten Schuld zu leben. Mit einer derart starken Allegorie zeichnet die Autorin ein existenzialistisches Bild des Lebens, doch sie bringt zugleich ein Wesensmerkmal von Depression auf den Punkt.

Die Darstellung von Krankheit und insbesondere von psychischer Krankheit hat im Medium des Comics eine lange Geschichte. Zu den herausragenden Comics (nicht nur) dieses Genres zählt Justin Greens bis heute noch nicht ins Deutsche übersetzter Comic Binky Brown meets the Holy Virgin Mary aus dem Jahr 1972. Darin macht der Zeichner ganz offensiv seine «Compulsive Neurosis», also «Zwangsneurose», zum Thema, die ihn seit Verlassen der katholischen Kirche plagt. Mit Ironie und Sarkasmus lässt der Autor den jungen Binky Brown sämtliche sexuelle Fantasien nachträglich ausleben, um sich von seinen Neurosen zu heilen. Als einen Akt der Befreiung kann man auch David B.s zweibändige Comic­biografie Die heilige Krankheit (2006/2007) lesen, die im Original zwischen 1996 und 2004 entstanden ist. Hier geht es um die Bewältigung eines Traumas, das Pierre-François durch die epileptischen Anfälle seines älteren Bruders Jean-Christophe erleidet. Unentwegt muss er sich davor schützen, dass die Krankheit seines Bruders nicht auf ihn übergreift. Während die epileptischen Anfälle sich ihm mit einer ungeheuren Brutalität – «wie eine Hinrichtung» – zeigen, wird das Zeichnen umgekehrt für ihn zu einer eigenen «Form der Epilepsie», die sich in der Intensität und Expressivität von David B.s surrealen Bildern kristallisiert. Unter den österreichischen Zeichner_innen hat Regina Hofer mit dem Comic Blad (2018) ein eindrucksvolles Beispiel geschaffen. Der Comic handelt von den Essstörungen einer jungen Frau. Die Ursachen lassen sich in den beengten patriarchalen Verhältnissen finden, unter denen die Protagonistin im Waldviertel aufwächst, bevor sie ein Kunststudium in Salzburg beginnt. Hofers Comic ist geprägt von einer klaren Seitenarchitektur aus quadratischen Panels, die sich zu grafischen Einheiten zusammenfügen. In klaren flächigen Zeichnungen entwickelt die Autorin eine eigene poetische Formensprache, mit der sie sich dem sensiblen Thema nähert.

Diese kursorische Umschau soll lediglich die Mannigfaltigkeit des Themas und die ästhetische Vielfalt der Herangehensweisen andeuten. Baumanns Comic Zwang reiht sich darin bestens ein. 1997 in der Gemeinde Horgen am Zürichsee geboren, wo sich auch ihr namenloses Alter Ego bewegt, bringt die Zeichnerin seit mehreren Jahren das Comic-Fanzine 2067 heraus. Auf den ersten und zweiten Blick wirken Baumanns Geschichten düster, was durch die Schraffurtechnik unterstützt wird.
Beengung kommt auch durch die fehlenden Spielräume zwischen den Panels auf, die stattdessen regelrecht durch eine engmaschige Naht verknüpft sind. Doch die Autorin streut auch ein beachtliches Maß an Humor in ihre Comics ein, wobei es sich vorwiegend um eine makabre und groteske Ausführung seiner Art handelt. Gleich zu Beginn kommt es zu einer Begegnung mit dem Vater der jungen Frau, der sie abschätzig als «Depri-Tante» beschimpft: «Mach doch mal einen ‹Comic der Freude›!!!» Umgehend antwortet die Autorin mit sarkastischem Galgenhumor und spielt die Idee vorsätzlicher Hochstimmung durch. Im «Comic der Freude» erscheint die Welt freudestrahlend, man muss es sich nur andauernd einreden, überall finden sich Blümchenmuster und Botschaften der Herzlichkeit, die auf T-Shirts oder Plakaten verkündet werden. Doch die Menschen tragen George-Grosz-Gesichter, und ihre Zahnreihen strahlen, weil sie aus der Zahnprothesen-Klinik kommen. Der Spaziergang der Freude führt die Tochter ins Sihlfelder Krematorium in Zürich, wo sie herzlich empfangen wird – «Hereinspaziert …» –, um dann in einen der Hochöfen zu steigen.
Die gute Tochter? Diese Freude macht sie ihren Eltern nicht. Depressionen lassen sich nicht einfach wegdekretieren. Pathos ist der Autorin jedoch genauso fremd. Leichter geht ihr «eine Horror-Story» von der Hand. In eine solche verwandelt sich eine Einladung zum Abendessen bei ihren Erzeuger_innen. «Was ist das für eine ‹Krankheit›, bei der man nicht arbeiten kann?!» Zur Strafe wird sie von ihren Eltern buchstäblich mit Messer und Gabel aufgefressen. Als Skelett in Kleidern verlässt sie das Haus ihrer Vernichter_innen. Mit solchen surrealen Traumbildern, grotesken Einfällen und Kunstgriffen knüpft Baumann unübersehbar an die Ästhetik der kanadischen Zeichnerin Julie Doucet an. Deren Dirty Plotte-Serie aus den 1990er Jahren – auf Deutsch auch mit Schnitte übersetzt – stellt einen Meilenstein feministischer Comic-Kunst dar und wird in Baumanns Comic mehrfach beiläufig zitiert. Souverän und mit eigenen Mitteln spinnt die Zeichnerin diese Ästhetik weiter. Ihre Bilder kommen mit wenig Text aus, doch zugleich lässt die Autorin in ihrem Kosmos alles miteinander kommunizieren. Das «Paradise»-Café mit dem «HELL»-Graffiti, Gesprächsfetzen mit Werbeaufschriften. Mit «Lesen macht glücklich» wirbt ein Verlagsunternehmen, doch das Erste, das man auf der nächsten Aufschrift zu lesen bekommt, ist eine glatte Beleidigung unter aller Würde. Baumanns schreienden Kontrasten und irritierenden Bildern von Angst und Schuld und von Geburt und Tod wohnen, als ex­plo­sives Potenzial, auch die Mittel zur Befreiung inne.

Simone F. Baumann: Zwang
Edition Moderne 2021
344 Seiten, 29 Euro

Regina Hofer: Blad
Luftschacht 2018
120 Seiten, 18,50 Euro

Justin Green: Binky Brown meets the Holy Virgin Mary [OF 1972]
McSweeney’s Books 2009
64 Seiten, 29 Euro

David B.: Die heilige Krankheit, Bd. 1–2
Edition Moderne 2006/2007
[OF: 1996 und 2004]
174 Seiten, 36 Euro

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