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Der Bursche hat eine klassische Heimkarriere durchlaufen. Schon als kleines Kind war Raphael mit einer massiven Überbelastung seines familiären Systems konfrontiert. Er reagierte mit Auszucken. Seine Familie bleibt instabil und kann das Kind nicht adäquat versorgen. Die «Zerrissenheit», die Raphael spürt, belastet seine Entwicklung sehr stark. Insbesondere in der Schule verstärken sich Frustration, Versagensängste, Wut und Aggression. In der Wohngemeinschaft, in die er als Jugendlicher kommt, gelingt es, Vertrauen aufzubauen, Sicherheit und Stabilität zu geben. «Ich kann doch etwas», ist Raphaels erstmalige Erfahrung. Dann kommt der Sprung zur Lehre. Beim Betrieb mögen sie den Burschen auch. Sie finden sogar, er ist super.
Durch die Verzögerung und die vielen Schleifen in seiner Entwicklung wird Raphael im ersten Lehrjahr 18 Jahre alt. Das heißt: Kurz vor der ersten Berufsschule muss er am Jahresende gesetzlich aus der WG hinausgeschmissen werden und ohne Nachbetreuung seinen Weg alleine bestreiten. Seine Familie ist nicht in der Lage, Unterstützung zu leisten.
Aktuell werden in Österreich nur 15 Prozent der Maßnahmen der «vollen Erziehung» der Kinder- und Jugendhilfe nach dem 18. Geburtstag verlängert. Dabei schwanken die Zahlen von Bundesland zu Bundesland und reichen von rund zehn Prozent in Niederösterreich bis zu fast 30 Prozent in der Steiermark. Die letzte Regierung hat diese Schere durch die Verländerung der Jugendhilfe auch noch weiter geöffnet. Die jungen Erwachsenen tragen ein erhöhtes Risiko, an den Hürden des Erwachsenwerdens zu scheitern.
Was passiert bei Raphael? So ganz allein beginnt die Versagensangst vor der Berufsschule an ihm zu knabbern. Das Schulthema ist wieder voll da. «Das schaffe ich sowieso nicht, da kann ich ja gleich aufhören und, und, und …» Die alte Angst vorm Scheitern schlägt wieder voll durch. Doch mit nur wenig Begleitung aus der WG heraus, gemeinsam mit den ihm vertrauten Personen wird er es schaffen. Und er könnte einer von denen werden, die am Ende der Berufsschule sogar einen sehr guten Erfolg vorweisen können. Ohne Unterstützung aber wird er genau das machen, was er über lange Zeit vorher eintrainiert hat – es vor dem (befürchteten) Scheitern selbst zerstören. Und die Ausbildung schmeißen.
Zum Schmeißen ist aber eigentlich das jetzige Gesetz. Die Diskriminierung der sogenannten «Care Leaver» ist kein österreichspezifisches Problem, doch in anderen Ländern hat man bereits reagiert: In Norwegen geht die staatliche Unterstützung bis zum Alter von 24 Jahren. In Deutschland können die Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe bis 26 verlängert werden, bis 21 kann man neu in eine Unterstützung hineinkommen. In Großbritannien muss zwei Jahre nach Beendigung der Maßnahme der/die Jugendliche aktiv kontaktiert werden, um zu sehen, ob Unterstützungsbedarf besteht.
Jugendliche mit schwieriger Lebensgeschichte brauchen Begleitung und Betreuung über das 18. Lebensjahr hinaus. Auch in einer Familie endet die Sorge und Unterstützung nicht einfach mit dem achtzehnten Geburtstag. Diese Begleitung wirkt stark präventiv und beugt Abstürzen vor. Mit nur drei Betreuungsstunden in der Woche könnte Raphaels Scheitern mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert werden. Das kostet keine 200 Euro. Es wird uns alle aber ein Vielfaches kosten, wenn der Bursche kurz vor dem Ziel einfach allein gelassen wird.