Zum Schwangerschaftsabbruch nach Wientun & lassen

In Polen sind Abtreibungen fast ausnahmslos verboten. Die austro-polnische Initiative
Ciocia Wienia bietet Beratung und organisiert Schwangerschafts­abbrüche in Österreich.

Text: Florian Bayer
Illustration: Asuka Grün

Auch die wochenlangen Proteste hunderttausender Pol_innen haben nichts genützt: Ende Jänner trat die Verschärfung der ohnehin extrem strikten polnischen Abtreibungsgesetze in Kraft. Seither sind Schwangerschaftsabbrüche nur noch dann erlaubt, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist oder das Leben der Schwangeren bedroht. Der bislang mit Abstand häufigste Ausnahmegrund, Missbildungen des Fötus, ist nun keiner mehr. Das schlägt Wellen bis nach Wien, immer mehr Polinnen lassen hier abtreiben. Ohne schiefe Blicke der Ärzt_innen, ohne nötige Begründung und vor allem: legal. In Polen werden abtreibende Frauen und zunehmend auch medizinisches Personal kriminalisiert. Hier in Wien sind die Helfer_innen vor den polnischen Behörden sicher.

Die Propaganda wirkt.

Dass Polinnen in Österreich abtreiben, ist nicht neu, hat Polen doch seit 1993 – neben damals noch Irland und bis heute Malta – das strengste Abtreibungsgesetz Europas. Neu ist hingegen, wie sich die Frauen organisieren können. «Es gibt mehr Anlaufstellen denn je. Auch auf Social Media sind Abtreibungen ein großes Thema, nicht zuletzt wegen der Proteste», sagt Anna Jaskolska. Sie arbeitet als Übersetzerin und Assistentin bei einer Wiener Abtreibungsklinik. 2007 habe sie eine Bekannte hierher begleitet, die weder Deutsch noch Englisch sprach. Weil dieses Problem häufiger vorkam, wurde die studierte Slawistin prompt angestellt. Heute berät sie jede Woche mehrere Polinnen, aber auch russischsprechende Frauen, die für den Schwangerschaftsabbruch nach Wien kommen. «Viele sind verängstigt und eingeschüchtert. Sie fragen sich: Ist das jetzt Mord? Darf ich das? Die massive Regierungspropaganda wirkt», sagt Jaskolska. Keine Frau würde sich die Entscheidung leicht machen, viele hätten Tränen in den Augen, sagen aber: Der Abbruch muss sein. Nach Gründen wird in ihrer Klinik nicht gefragt, wichtig sei nur die Versicherung, dass der Entschluss aus freien Stücken erfolgte. «Wir fragen mehrmals nach, ob die Entscheidung wirklich klar und sicher ist. Viele glauben, sie seien weit und breit die einzige Betroffene, weil darüber kaum offen gesprochen wird», sagt Jaskolska. Besonders in Polen.

Regierung, Kirche, Gericht.

Ein Schwangerschaftsabbruch kostet in Wien zwischen fünf- und sechshundert Euro, je nach Klinik und Methode: mittels Tabletten oder Kürettage, die unter örtlicher Betäubung oder Vollnarkose erfolgt. Die letzte Wahl hat immer die Frau, es sei denn, es gibt eine medizinische Indikation für eine bestimmte Variante.
Wie viele Polinnen in Österreich jährlich abtreiben, ist nicht bekannt, laut Schätzungen sind es jedenfalls einige Hundert. Und die Zahlen dürften steigen. Denn nicht nur die Gesetze werden strenger, sondern auch das Stigma wird größer. Die seit 2015 regierende Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) nutzt jede Gelegenheit, gegen Minderheiten, LGBT (Lesben, Schwule, Bi-, Transsexuelle etc.) und den «liberalen Westen» zu hetzen. Etliche PiS-regierte Gemeinden haben sich zur «LGBT-freien Zone» erklärt, Menschenrechts-NGOs wurden staatliche Förderungen entzogen, und die Regierung will aus der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen austreten. Seit letztem Jahr ist das 38-Millionen-Einwohner_innen-Land laut dem Nations in Transit-Report der NGO Freedom House keine «konsolidierte», sondern nur noch eine «semi-konsolidierte Demokratie». Das liegt hauptsächlich an der umstrittenen Justizreform kurz nach der Machtübernahme der PiS. Seit 2016 läuft ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren der EU-Kommission gegen Polen, bislang ohne Erfolg. Seither werden immer mehr protestierende Bürger_innen angeklagt, etwa eine LGBT-Aktivistin, die ein Marienbild mit einem Regenbogen-Heiligenschein ausschmückte, oder die Organisatorin der Abtreibungsproteste: Sie habe, so der Vorwurf, die Gesundheit der Teilnehmenden gefährdet. Seit der Justizreform besteht die Gefahr, dass Richter_innen politisch motivierte Urteile fällen, um die Zivilgesellschaft einzuschüchtern.
«Die Rechte von Frauen sind ein Gradmesser für die Demokratie. Einschränkungen der Menschenrechte treffen fast immer sie zuerst», sagt Ewa Ernst-Dziedzic. Die gebürtige Polin kam im Alter von zehn Jahren nach Wien, sitzt für die Grünen im Nationalrat und war lange Jahre Frauensprecherin der Partei. Zur Abtreibungsdebatte sagt sie: «Es ist wie in Österreich: Die polnische Gesellschaft ist progressiver als ihre Regierung.» Das habe sich hier bei der Frage der Öffnung der Ehe für Homosexuelle gezeigt, in Polen beim Thema Abtreibungen. Rund zwei Drittel der Pol_innen waren laut Umfragen gegen die Verschärfung der Gesetzgebung. Beide Entscheide wurden aber vom jeweiligen Verfassungsgerichtshof durchgesetzt – wenngleich der polnische der Regierung hörig ist. Die PiS will schon seit Jahren die Abtreibungsgesetze verschärfen, vor allem als Zugeständnis an die mächtige katholische Kirche.

Pro Choice in Wien.

Ernst-Dziedzic kämpft im Parlament und auf der Straße für Frauenrechte. In den letzten Jahren gab es auch in Wien Demonstrationen gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze. «Österreich darf nicht schweigen, wenn auf europäischem Boden Grundrechte angegriffen werden», sagt die Grünen-Politikerin. Der Europarat hat Polen seit 2016 immer wieder gerügt, wegen der Gleichschaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der Justizreform. Von der österreichischen Regierung kam in all den Jahren kein Wort der Kritik. Ernst-Dziedzic wird nicht müde, das Thema anzusprechen, unterstützt Resolutionen des Europäischen Parlaments und spricht auf Demos, soweit sie stattfinden können.
Seit kurzem gibt es eine neue Anlaufstelle für Polinnen, die in Wien abtreiben wollen: Ciocia Wienia, «Tante Wienia». Inspiriert von der Initiative Ciocia Basia, die Schwangerschaftsabbrüche für Polinnen in Berlin organisiert, gründete eine Handvoll polnischer Aktivistinnen ein Wiener Pendant. Büro oder Postadresse gibt es keine, der Kontakt mit Betroffenen läuft über Website, Social Media und E-Mail. Die Feministinnen sind bedacht, anonym zu bleiben, um nicht zur Zielscheibe der mächtigen und international bestens vernetzten Anti-Choice-Bewegung zu werden.
Bisher hat das Team von Ciocia Wienia Schwangerschaftsabbrüche für mehr als 20 Polinnen in Wien organisiert und deutlich mehr beraten. In Zeiten von Corona-Einreisebeschränkungen ist die medikamentöse Abtreibung für viele die erste Wahl, berichtet uns eine Aktivistin von Ciocia Wienia. Ihre Partnerorganisation Women Help Women verschickt Tabletten für den Schwangerschaftsabbruch zuhause, Ciocia Wienia unterstützt telefonisch. «Wenn die Abtreibung aber chirurgisch oder unter Aufsicht stattfinden muss, etwa in einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft, organisieren wir einen Termin in unserer Wiener Partnerklinik», sagt unsere Gesprächspartnerin. Die Pandemie habe die Situation erschwert: Für die Reise nach Österreich brauchen die Frauen meist einen negativen Coronatest für sich und ihre Begleitung, doch in Polen ist es nicht leicht, an einen Test zu kommen. «Zusätzlich braucht es Einreiseformulare und eine Bestätigung, dass die Reise für medizinische Zwecke erfolgt. Wir helfen dabei.» Geholfen wird auch bei Organisatorischem wie dem Kauf des Zugtickets, der Autobahnvignette oder beim Benützen der Wiener Teststraßen. Weil Hotels nur für Geschäftsreisende geöffnet haben, nehmen unsere Gesprächspartnerin und ihre Kolleginnen die Frauen bei sich in den Wohnungen auf. Oft spielt auch das Geld eine Rolle: Die fünf- bis sechshundert Euro für die Abtreibung können sich nicht alle Frauen leisten. Ciocia Wienia, die sich über Spenden finanziert, hilft dann mit Zuschüssen.
Das größte Problem bleibe aber die Stigmatisierung. Viele Frauen würden gefragt: Warum reist du nach Wien, mitten in der Pandemie? «Sie lügen dann notgedrungen, sie sind oft allein mit ihrer Situation. Diese Einsamkeit ist herzzerreißend», sagt die Aktivistin von Ciocia Wienia. Auf der anderen Seite sei beeindruckend, wie stark die Betroffenen sind – trotz der vielen Hindernisse, die ihnen von Staat und Gesellschaft in den Weg gelegt werden. Entsprechend groß ist dann meist auch die Erleichterung, wenn sie sehen, wie ein anderer Umgang mit diesem Tabuthema aussehen kann.