Zunächst einmal die «Ehrenrunde» abschaffen …tun & lassen

... und dann die ganze Schule!

Zwischen Ivan Illichs Vision einer schulfreien Gesellschaft und der erdrückenden Realität, dass selbst das Kontroll- und Disziplinierungsinstrument des «Sitzenbleibens» von der Mehrheit der Bevölkerung gebilligt wird, liegt scheinbar eine unüberwindliche Kluft. Robert Sommer unternimmt den Versuch, das Unmögliche als das Machbare anzunehmen.Der Schulpolitik, ob schwarz, rot oder rot-schwarz, ist es gelungen, dass die Bevölkerung über Fragen diskutiert, die nicht den Kern der Krise des Schulsystems berühren. Eine Ersatzdebatte findet statt, in der dafür gesorgt wird, dass die «Lösungsvorschläge», egal wie unterschiedlich oder polarisiert sie auch ausfallen, nichts am Prinzip Schule ändern. Der moderne Kapitalismus kann mit den SPÖ-Vorstellungen einer Gesamtschule genauso leben wie mit den die «Fähigen» aussortierenden Schulmodellen der ÖVP und FPÖ, er kann mit Reformen im Regelschulwesen genauso leben wie mit der Forcierung reformpädagogischer Privatschulen.

Schlechte Noten in den sogenannten MINT-Fächern (dieser bildungspolitische Fachbegriff steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) geben vermeintlich Auskunft darüber, wie fit die Auszubildenden in jenen Fertigkeiten sind, die für «die Wirtschaft» am nützlichsten gelten. Aber alle vier hier beteiligten Akteur_innen unterliegen einer mehrfachen Täuschung – die Lehrer_innen, die Schüler_innen, die Eltern und die späteren Arbeitgeber_innen. Bundesweite Vergleiche von Mathematik-Benotungen zeigen zum Beispiel, dass es für dieselbe Leistung da einen Zweier, dort einen Vierer gibt. Die Noten sagen absolut nichts aus über Fähigkeiten, Talente, Kompetenzen und Interessen, die im Zuge der Ökonomisierung der Pädagogik (also der Ausrichtung der Schule nach den Interessen der Wirtschaft) als weniger wertvoll gelten, die aber jemanden zu einer entwickelten und souveränen Persönlichkeit machen. Es gibt Länder, in denen viele Leute die Fertigkeit besitzen, Autos so instand zu halten, dass sie praktisch ewig rollen (wer denkt da nicht an Kuba?). Diese Leute sind quasi die Held_innen der Postwachstumsgesellschaft. In Gesellschaffen, die der neoliberalen Wirtschaftswachstumsreligion anheimgefallen sind, gilt diese Fertigkeit als ökonomisch sinnlos: Ist ein Auto kaputt, kann und darf man es nicht reparieren, sondern durch ein neues ersetzen.

Das Bewusstsein der Minderwertigkeit verlernen

Als ökonomisch sinnvoll hingegen gilt die frühe Einübung ins Konkurrenzverhalten. Dafür ist das Notensystem geradezu ideal. Leider haben Expert_innen und Schulpolitiker_innen, die dem Konkurrenzprinzip in der Schule huldigen und deswegen die Benotung zum Essenziellen der Pädagogik erklären, breiten Rückhalt in der Bevölkerung: «Bei der leidigen Diskussion um die Wiederholung einer Klasse aufgrund schlechter Noten geht die Meinung der breiten Bevölkerung nach wie vor in Richtung ‹Sitzenbleiben›. Mehr als die Hälfte der Befragten spricht sich dafür aus, 28 Prozent wären für dessen Abschaffung. Damit ist die Zahl der Befürworter des ‹Sitzenbleibens› sogar in den letzten fünf Jahren gestiegen. 2010 waren noch 32 Prozent für die Abschaffung der ‹Ehrenrunde›» («News», 26. 8. 2015).

Zur Abrundung des Bildes über das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Schule muss man aber auch konzedieren, dass viele engagierte Lehrer_innen, sei es im Regelschulbereich, sei es in staatlich geduldeten privaten Schulexperimenten, ihre Macht qua Benotung zurücknehmen. Wie kein zweites Konzept von Bildung eignet sich die «Entschulungs»-Idee des österreichischen Philosophen Ivan Illich, um diese smarte Variante des Leistungsvergleichs einordnen zu können. Ob der Leistungsnachweis streng oder smart ausfällt – entscheidend ist nach Illich die Herrschafts-Eigenschaft der Schulbildung. Diese erzeuge, weil sie vom Gefälle von Lehrer_in zur Schüler_in, von Gelernt-Haben zum Noch-Lernen-Müssen ausgehe, eine scheinbar natürliche und darum schwer zu bekämpfende Hierarchie, ein Bewusstsein von Minderwertigkeit bei dem einen und Überlegenheit bei dem anderen, das alle gegenläufigen Erfahrungen verhindere.

Die Schlussfolgerung, die Illich daraus zieht, nämlich die Ablehnung der Pflichtschule als Ganzes, die Entschulung der Gesellschaft, erscheint aus «realpolitischer» Sicht nur deshalb so weltfremd, weil das Denken Illichs völlig ausgeklammert blieb aus dem österreichischen Diskurs um die «nützliche» Schule. Je mehr man sich in seine Entschulungs-Vision vertieft, desto plausibler erscheint aber seine radikale Kritik des staatlichen Schulsystems: «Im schlimmsten Falle stecken Schulen eine Klassengemeinschaft in dasselbe Zimmer und verabfolgen ihr die gleiche Behandlung in Mathematik, Staatsbürgerkunde und Rechtschreibung. Im besten Falle erlauben sie jedem Schüler, aus einer beschränkten Zahl von Fächern eines auszuwählen. In jedem Fall geht es um Ziele, die von Lehrern gesteckt worden sind. In einem erstrebenswerten Bildungssystem würde es jedermann freistehen, sich für die ihn interessierende Tätigkeit einen Partner zu suchen.»

Warum ist der Güterbahnhof unzugänglich?

Die Linke greife zu kurz, wenn sie die Chancengleichheit zur Hauptfrage der Schuldebatte mache und darum kämpfe, den Armen mehr Ausrüstung für Bildungszwecke zur Verfügung zu stellen. Von einem radikalerem Standpunkt aus müsse man anerkennen, dass in der Großstadt Arme wie Reiche den meisten Dingen, die sie umgeben, künstlich ferngehalten werden. Warum? «Die Industrie hat Menschen mit Gegenständen umgeben, deren innere Funktionen nur Spezialisten verstehen dürfen. Der Nichtspezialist wird eher daran gehindert herauszufinden, warum eine Uhr tickt, ein Telefon klingelt (heute würde er vom Handy reden, die Red.) oder eine elektrische Schreibmaschine (heute: Computer) schreibt, indem man ihm sagt, der würde dabei doch nur gern Schaden anrichten. Die von Menschen geschaffene Umwelt ist unbegreiflich geworden (…) Sie muss zugänglich gemacht werden (…) In der westlichen Gesellschaft werden Kinder von den meisten Dingen und Orten mit der Begründung ausgeschlossen, diese seien Privatbesitz.» Illich bemerkt hier einen verblüffenden Zusammenhang zwischen Eigentumsverhältnissen und Bildung – einen Konnex, der den notorisch privateigentumskritischen Linken kaum bewusst ist. «Aber selbst in Gesellschaften, die das Privateigentum abgeschafft haben», schreibt Illich weiter, «werden Kinder den gleichen Dingen und Orten ferngehalten, weil sie als besondere Domäne von Fachleuten gelten und dem Uneingeweihten gefährlich werden können. Seit einer Generation ist der Güterbahnhof genauso unzugänglich geworden wie das Spritzenhaus (Illich schrieb diese Zeilen Anfang der 70er Jahre – die Red.). Der Begriff Lehrmittel würde weniger eng. Es könnte Werkstätten, Bibliotheken, Laboratorien und Spielzimmer geben. Das hauptberufliche Personal, das für diese Anlagen benötigt würde, gliche eher Kustoden, Museumsführern und Bibliothekaren als Lehrern.» Er sehe keinen Grund, «weshalb man kompliziertere Fertigkeiten, etwa die mechanische Seite der Chirurgie, das Geigenspiel, Lesen oder Benutzung von Handbüchern und Katalogen nicht auf die gleiche Weise lernen könnte (…) Wer Fertigkeiten lehrt, braucht einen Anreiz, um seinen Dienste einem Schüler zur Verfügung zu stellen. Man könnte die Fertigkeiten-Börse zur Institution erheben, indem man freie Fertigkeiten-Zentren schafft, zu denen jedermann Zugang hat.»

Ein Netz von Kompetenz-Börsen überzieht die erträumte Landschaft. Dieses Bild ist bedeutend, denn es macht den Vorwurf absurd, Illich wolle die Schule abschaffen, ohne für eine Alternative zu sorgen. Der Staat kann die Schulen endlich den Flüchtlingen geben; die Illich’schen Fertigkeitszentren brauchen ebenfalls Geld aus dem Staatsbudget – aber bedeutend weniger Platz.

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