Zurück zum Start – Ernst Molden über Neunzehn, Eins, Drei – Wiener Leben in Bezirkenvorstadt

17 namhafte Journalist_innen machen sich Gedanken über ihr Wien (Teil 4)

Neunzehn

Im Neunzehnten geht der Mensch an Gartenzäunen entlang. Das ist das Spezifische, das Symptomatische an diesem Teil Wiens zwischen Stadt und Land. Am Land geht man an Feldern entlang. In der Stadt an den Hausmauern. Der Neunzehnte hat seine Gartenzäune. Die davon besser oder schlechter verdeckten Gärten sind tapfere kleine Behauptungen, höchstpersönliche, domestizierte Stücke Natur. Dazu ein Haufen bürgerliche Geheimnisse. Über die Zäune, an denen man entlanggeht, kann man das alles riechen.

Meine Kindheit und einen Teil meiner Jugend habe ich im Neunzehnten verbracht. Sprich: im 19. Bezirk der Stadt Wien, «Döbling». Wir lebten im Viertel Heiligenstadt, wo alles in erster Linie sehr alt ist. In Heiligenstadt waren schon die Römer, ihre Legionäre kelterten einen Wein, den ihr oberster Befehlshaber, der Philosophenkaiser Marcus Aurelius, mit Essig verglich. Heiligenstadt war ein Paradoxon innerhalb des vornehmlich bourgeoisen und reichen Bezirks Döbling, denn hier hatte auch das Proletariat seine Reviere. Hier steht, einen ganzen Kilometer lang, jener festungsartige Gemeindebau namens Karl-Marx-Hof, in dem die Februarunruhen 1934 ihren Ausgang nahmen. Sie mündeten in den Ständestaat, eine De-facto-Diktatur der Christdemokraten. Der rechte Teil des Neunzehnten hatte gewonnen.

 

Im modernen Wien ist diese bürgerliche Welt zu einer Art Indianerreservat geworden. Die Döblinger, seit Jahrzehnten geistig unter sich, sind ein sonderbares Völkchen mit einigen liebenswerten und einigen unerträglichen Eigenschaften. Sie fühlen sich bedroht und sind furchtbar gern beleidigt. Und dann all das Fremde! Die größte Angst des Menschen aus dem Neunzehnten ist jene, vom Emporkömmling, der sich in den teuren Bezirk am Rand des Wienerwaldes einkauft, verdrängt zu werden. Dabei wird vergessen, dass die Döblinger (abgesehen von ein paar Weinbauern und den Arbeitern unten am Fluss) immer schon Parvenüs waren. Das neureiche Bürgertum der Belle Époque entdeckte die malerischen Weindörfer im Nordwesten zum Leben – seitdem spülte jede Ära ihre Neureichen in den Neunzehnten. Und wenn jetzt die neueste Angst «den Russen» gilt, müsste man eigentlich sagen: Die wohlhabenden Russen der Putin-Zeit sind natürlich klassische Döblinger. Aber die anderen Döblinger wären sofort tödlich beleidigt.

Eins

Mitte der Achtzigerjahre, als depperter junger Mann, lebte ich im Ersten. Und dieser 1. Bezirk, diese «Innere Stadt», wie er offiziös heißt, war für einen solchen Mann der beste aller Jagdgründe. Es war die Zeit vor der Wende im Osten, Wien lag am Ende der Sackgasse, und es war, was heute schwer vorstellbar ist, nichts los in der Stadt. Und wenn doch, dann fast immer im Ersten. Ich wohnte fast zehn Jahre in einem winzigen Dachstüberl im Bäckerstraßenviertel, was damals Hipsterland war. Die Künstler soffen im «Oswald und Kalb», die Lebenskünstler im «Alt Wien», im Café «Prückel» gabelfrühstückte man sich den Kater vom Hals, und fad war es fast nie. Es gab «Die Bar» in der Sonnenfelsgasse, das jüdische Nacht-Café «Mazeltow» und das damals nagelneue «Engländer». Der depperte junge Mann braucht Lokale, um zu überleben, und die waren dort.

 

Aber kam man aus diesen Lokalen am Ende der Nacht, wenn die Amseln schon schrien, wieder heraus, dann sah man den Ersten, wie er wirklich war. Jetzt, da sich die letzten Touristen in ihre Hotelbetten verkrochen hatten, war der Erste einfach Stein. Vergesslicher, herzenskalter Stein, die steinerne innerste Windung jener enormen Schnecke, zu der sich die Wiener Bezirke angeordnet haben. Der kalte Stein des Ersten vergaß Nacht für Nacht wieder alles, was gewesen war. Ohne Menschen war diese imperiale Prachtmanifestation von einem Stadtteil plötzlich nur noch ein blinder Fleck.

Für den depperten jungen Mann, der bekanntlich hauptsächlich nach sich selbst sucht, nicht der schlechteste Ort.

Drei

Stattdessen fand ich meine Liebste und zog in den Dritten, wo ich seitdem ununterbrochen bin. Der 3. Bezirk Wiens heißt «Landstraße», und das ist herrlich für jemand wie mich, der Stadt nur als eine spezifische Ausformung von Natur betrachtet. Ich habe also meine Landstraße, nütze sie als ein Schwert des Bekannten, das den schwer zu durchschauenden Rest durchschneidet.

 

Der Dritte hat die Form eines länglichen Lappens, der mit einer Schmalseite am Ersten, also am Zentrum hängt und weit in den Osten der Stadt hineinflattert. Dahinter ist dann nur noch das geradezu morgenländische Simmering, der Elfte.

 

Der Dritte besitzt viele Landschaften: Die Arbeitergegend Erdberg, das Schlachthof-Grätzel Sankt Marx, das dörfliche Weißgerberviertel am Kanal. Und das irgendwie abgehobene sogenannte Diplomatenviertel am Rennweg, ein Land voller Botschafter und bläulich getönter Witwen. Die schon leicht verkommene Nordostflanke des Diplomatenviertels grenzt an die S-Bahn-Geleise, und genau dorthin zogen wir. Durch die Bahnschlucht hatten wir viel Platz vor den Fenstern, wir sahen auf das finster-ehrwürdige Walmdach eines alten Hochschulgebäudes und auf zwei dahinter aufragende Pappeln. Wir blieben jahrelang in der allmählich zerbröselnden, aber total romantischen Altbauwohnung, und nach und nach kamen unsere drei Kinder zu uns. Irgendwann waren wir zu viele und zu groß und zu grob für die alte Wohnung und zogen ein Stück stadtauswärts, auf die Erdberger Seite der Landstraßer Hauptstraße. Das ist jetzt eine Gegend, naja, die sich gerade formt. Wo die Bewohner alter Siedlungsformen wie des in seiner Majestät dem Karl-Marx-Hof fast ebenbürtigen Rabenhofs ihre Territorien verteidigen, wo neue Bewohner wie die selbstbewusste türkische Community Erdbergs ihre Claims abstecken. Es wurlt und knackt fruchtbar im Getriebe.

 

Selten gebe ich einer kleinen morbiden Sehnsucht nach und fahre in den Neunzehnten zum Spazierengehen. Und da sind dann wieder die Gartenzäune. Und da riecht es dann nach Heimat und zugleich nach Verstorbenem wie aus einem Schnitzler-Text.

Ernst Molden, geboren 1967 in Wien, lebt als Liedermacher und Schriftsteller in Wien. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Österreichischen Förderungspreis für Literatur sowie mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik.

 

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