Zusammenhalten und solidarisch seintun & lassen

Interview: Christoph Riedl, Asylexperte

Die Türkei hat Ende Februar ihre Grenze geöffnet (und inzwischen wieder geschlossen). Viele Geflüchtete versuchten, nach Griechenland zu kommen. Empfangen wurden sie mit Tränengas. Einige haben es auf griechische Inseln geschafft, wo schon sehr viele Flüchtlinge leben. Wie ist die Situation vor Ort, und was kann Österreich konkret tun?
Interview: Ruth Weismann, Fotos: Jana Madzigon

Mehr als 42.500 Geflüchtete und Migrant_innen leben laut dem griechischen Bürgerschutzministerium derzeit auf den Inseln Lesbos, Samos, Kos, Leros und Chios. Die offizielle Aufnahmekapazität beträgt nur rund 6.200 Plätze. Rund 5.500 von ihnen sind unbegleitete Minderjährige, wie die EU-Kommission angibt.

Herr Riedl, Sie kennen die Situation in griechischen Flüchtlingslagern gut. Können Sie diese kurz umreißen?

Die Lager sind schon seit Jahren komplett überbelegt. Ich war 2016 erstmals auf Chios, 2018 noch einmal, da hatte sich die Situation weiter verschlimmert. Das passierte alles unter den Augen der EU. Griechenland wurde in eine völlig ausweglose Situation gedrängt und kann sich nicht mehr bewegen. In Griechenland ist das Asylsystem schon vor mehr als zehn Jahren zusammengebrochen.

Was bedeutet das: Das Asylsystem ist zusammengebrochen?
Ich war vor rund zehn Jahren schon mal dort, da gab es nur an einer Stelle in Athen die Möglichkeit, Asylanträge zu stellen – ich glaube, 20 pro Woche. Bei dieser Polizeistation haben sich Schlangen gebildet, Leute haben auf der Straße übernachtet. Die Plätze sind aber von mafiaähnlichen Strukturen verlost worden, die Leute standen also umsonst an. Diese Situation hat damals dazu geführt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand, Dublin-Verfahren mit Griechenland müssen ausgesetzt werden. Es dürfen also bis heute keine Asylsuchenden, die in andere EU Länder gelangt sind, nach Griechenland zurückgeschickt werden.
Dann wurden die sogenannten Hot Spots eingerichtet, um zu überprüfen, wer zu einem Asylverfahren zugelassen wird. Die Zugelassenen sollten weiterverteilt werden nach Europa, wo sie das Asylverfahren machen können. Die Hot-Spots-Idee ist aber in kürzester Zeit flöten gegangen, denn die Geflüchteten wären da interniert gewesen, das war mit dem griechischen Verfassungsrecht nicht kompatibel.

Warum werden die Menschen dann immer noch festgehalten?
Es wird seither ständig eine rechtswidrige Weisung vom griechischen Asylamt verlängert, die besagt, dass die Leute auf den Inseln bleiben müssen. Auch, so glaube ich, auf Druck der EU. Es gibt Anwälte und Anwältinnen, die Einspruch erheben, aber dann kommt die nächste Weisung. Und in den Asylverfahren passiert gar nichts.

Griechenland wird also mit der Situation von der EU alleine gelassen?
Ja. Wenn Griechenland zu einem funktionalen Asylsystem kommen würde, würde das bedeuten, dass das Dublin-System wieder in Kraft gesetzt wird. Die Länder Europas würden – zusätzlich zu den jetzt in Griechenland ankommenden Flüchtlingen – alle, die über Griechenland eingereist sind, wieder dorthin zurückschicken. Es ist schrecklich, was passiert, aber Griechenland hat eigentlich keine andere Möglichkeit, als dass das Asylsystem nicht funktioniert. Sonst würde alles noch schlimmer werden.
Das alles zeigt, dass das europäische Asylsystem komplett dysfunktional ist. Man müsste es dringend überarbeiten, in Richtung Solidarität und gemeinsame Verantwortungsteilung in Europa.

Wie schätzen sie das EU-Türkei-Abkommen ein?
Dieser Deal geht davon aus, dass die Türkei ein sicheres Drittland ist. Ist sie aber nicht. Die EU muss bei der Beurteilung von ihren eigenen Standards ausgehen. Aber die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet, sie haben keine Asylverfahren eingerichtet. Es gibt keine Garantie, dass jemand von der Türkei nicht plötzlich ins Herkunftsland abgeschoben wird – und das ist ja auch passiert. Man muss es aber von beiden Seiten betrachten. Die Türkei hat 3,5 Millionen Flüchtlinge beherbergt. Sie hat Gewaltiges geleistet in der Versorgung, in der Unterbringung, es wurden Schulen gebaut. Und das nicht nur, weil es den Deal gab.
Aber aus der Perspektive des internationalen Flüchtlingsrechts betrachtet heißt das dennoch nicht, dass die Leute Sicherheit erlangt haben. Sicherheit im asylrechtlichen Sinn heißt Schutz zu haben, der stabil ist, und der einem nicht von einem Tag auf den anderen entzogen werden kann. Auch im europäischen System ist Asyl zuerst auf Zeit angelegt (Anm.: für drei Jahre, danach kann ein unbefristetes Aufenthaltsrecht gewährt werden), aber da muss es ein Aberkennungsverfahren geben, man kann Rechtsmittel dagegen einbringen etc. Zu all dem ist die Türkei nicht verpflichtet.

In Griechenland können derzeit auch keine Asylanträge gestellt werden.
Dass die griechische Regierung gesagt hat, man kann keine Asylanträge mehr stellen, und dass Leute, die aufgegriffen werden, abgeschoben werden, ist ein kompletter Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention. Das wirklich Empörende ist, dass hier die gesamte EU-Kommission wegschaut. Das Recht, einen Asylantrag zu stellen, ist ja nicht nur ein Recht der Genfer Flüchtlingskonvention, es ist in verschiedenen europäischen Gesetzen und Richtlinien verankert, bis hin zur EU-Grundrechtecharta. Der Rechtsbruch ist eklatant, das sind die Fundamente Europas: die Einhaltung der Menschenrechte und der Schutz von Minderheiten.

Was könnte Österreich konkret tun, um den Menschen jetzt zu helfen?
Das Problem besteht ja seit langem. Dass es morgen eine Einigung für ein neues europäisches Asylsystem gibt, ist nicht wahrscheinlich. Man muss den Resetknopf drücken und sagen: Diese Leute, die da in den griechischen Lagern dahinvegetieren, die muss man sofort rausholen, und zwar alle. Die Dublin-Regelung hat eine Solidaritätsklausel. Länder haben auch die Möglichkeit, selbst in ein Asylverfahren einzutreten, dann wäre nicht mehr Griechenland zuständig. Österreich könnte sagen: Wir holen die Menschen her, ihre Asylverfahren werden hier durchgeführt.
Es ginge auch über einen Relocation-Prozess. Griechenland gibt vor, das eingeleitet zu haben, aber das ist nicht der Fall. Griechenland könnte sich an die EU-Kommission wenden, die dann mit den Ländern verhandelt, die Flüchtlinge aufnehmen wollen.
Dann gibt es noch das Resettlement-Programm – Aufnahmen aus Drittländern, meist über Vorschlag des UNHCR (Anm.: Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge), wobei UNHCR die Menschen bereits als Flüchtlinge identifiziert hat, sie bekommen Asylrecht ohne weitere Prüfung. Das kann man allerdings nicht anwenden, wenn Menschen schon in Europa sind. Aber man könnte es bei jenen anwenden, die jetzt an der Grenze in der Türkei sind und in die EU möchten.

Die Möglichkeiten gäbe es also. Warum macht Österreich davon nicht Gebrauch?
Weil Österreich und auch andere Länder sich nicht ausreichend solidarisch zeigen.

Hat sich das ihrem Eindruck nach verändert? 2015 gab es doch mehr Solidarität.
Es ist mit Sicherheit insgesamt schlimmer geworden. Allerdings gibt es auch jetzt eine Gruppe von Willigen. Es gibt ein paar Länder in der EU, die sehen, wie groß die Not ist. Sie gehen voran und möchten zumindest unbegleitete Minderjährige und besonders Schutzbedürftige aufnehmen.

In Deutschland haben sich Gemeinden und Städte zum Bündnis ­«Sichere Häfen» zusammengeschlossen, und verpflichten sich, Geflüchtete aufzunehmen. Warum nicht auch Wien?
Das sollte Wien gefragt werden, das sich ja als Menschenrechtsstadt sieht und gute Arbeit leistet. Sowohl in der Unterbringung und Betreuung von Asylsuchenden, als auch in der Integration. In Deutschland sind es übrigens schon 140 Städte und Gemeinden, die sich als Sichere Häfen deklariert haben. Die Entscheidung über Aufnahmen liegt zwar beim Innenministerium. Aber die Bereitschaft der Städte und Gemeinden hat meiner Meinung nach einen wesentlichen Beitrag zum Einschwenkens des deutschen Innenministers Seehofer in die Gruppe der Willigen geleistet.

Was müsste man Ihrer Meinung nach tun, damit die Haltung zu Geflüchteten solidarisch wird?
Da wurde in den letzten Jahren sehr viel Gift in den Brunnen geschüttet. Meine Überzeugung ist, dass man mit Zwangsmaßnahmen bei den Staaten wenig erreichen kann. Ich denke, man müsste Anreizsysteme schaffen, Flüchtlinge aufzunehmen. Flüchtlinge wurden zur Bedrohung hochstilisiert, und ich glaube, man kann es nur durchbrechen, in dem man Menschen gemeinsame positive Erfahrungen machen lässt und klarmacht, dass es ein Recht ist, Asyl zu bekommen. Darum sind die Initiativen von Gemeinden und die deutschen Städte, die sich gemeldet haben, ungemein wichtig. Damit man die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen nicht den rechten Regierungschefs Europas und ihrer Hetze überlässt. Es muss von unten organisiert werden, da bin ich fest überzeugt.
Wenn man es schafft, das außerdem zu verbinden, etwa damit, dass es in manchen Ländern Probleme mit Facharbeitern gibt und man Geflüchtete qualifiziert, dann entstehen Win-Win-Situationen. Oder man verknüpft die Gewährung von Zuschüssen zu Infrastrukturmaßnahmen wie Schulen und Nachbarschaftszentren an die Bereitschaft, auch Flüchtlinge aufzunehmen. Ich denke, es wäre wichtig, dass die Kommunen, die das machen möchten, sich direkt das Geld aus Brüssel abholen können, denn in den Kommunen ist die Stimmung oft anders, es gibt mehr Solidarität.

Expert_innen warnen, dass Maßnahmen gegen die Coronavirus Ausbreitung in überfüllten Flüchtlingslagern nicht möglich wären. Wie kann Gesundheit dort überhaupt sichergestellt werden?
Ja, das halte ich für ausgeschlossen, dass das dort geht. Ein weiteres Argument zu sagen: Man muss die Leute so schnell wie möglich rausholen. Die Gesundheitsversorgung auf den griechischen Inseln ist ohnehin sehr reduziert. Es gibt Krankheiten, die da gar nicht behandelt werden können. Ärzte ohne Grenzen bitten immer wieder dringend, wenigstens die schwerkranken Menschen aufs Festland bringen zu dürfen, und es gibt Ärzte in Spitälern, die sich weigern, Flüchtlinge zu behandeln. Es ist kein menschenwürdiges Leben unter solchen Einschränkungen möglich. Man kann die Lager nur schließen und die Menschen rasch in geordnete Verhältnisse bringen.

Christoph Riedl ist Experte für Asyl, Menschenrechte und Integration bei der Diakonie. Er schreibt auf blog.diakonie.at