ZusammenreissenDichter Innenteil

Ich bin verspannt. Rechts in meinem Nacken zieht es ganz fürchterlich, wenn ich meinen Kopf drehe. Ich habe meinen Schal vergessen, und das feuchtkalte Wetter und der Wind, der eisig durch die U-Bahn-Stationen pfeift, tragen nicht gerade zur Besserung meines Zustands bei. Ich steige in den überfüllten Wagon, in dem sich das wintertypisch unangenehme Mikroklima aus kalter Luft und dem Dampf, der aus aufgezippten und aufgeknöpften Winterjacken ausströmt, gebildet hat. Neben mir eine ziemlich überspannte Lady, zu stark geschminkt und zu leicht bekleidet, die mit schriller Stimme in ihr Mobiltelefon kreischt.Daneben ein offensichtlich unentspannter junger Mann im Anzug, eine Laptoptasche über der Schulter, der im 30-Sekunden-Takt abwechselnd nervös von seiner Armbanduhr auf den U-Bahn-Plan und zurück blinzelt als könnte er die Zeit dadurch beschleunigen. Auf einem der Sitzplätze am Fenster lehnt eine junge Frau, die trotz der frühen Tageszeit schon jetzt einen ziemlich abgespannten Eindruck erweckt. Neben ihr ihre Tochter, mit ihrer kleinen Kindergartentasche, gestresst auf die Mutter einredend, die Mutter bemüht, ruhig zu bleiben, dem Kind das Gefühl zu geben, zuzuhören, und gleichzeitig ihren eigenen Gedanken nachhängend; wahrscheinlich denkt sie gerade eine lange Liste voller Erledigungen durch, die sie heute in dem ohnehin knappen Zeitplan unterbringen muss: das Kind in den Kindergarten bringen, in die Arbeit fahren, danach schnell einkaufen, das Kind abholen, kochen, Hausarbeit, ach ja, und mit dem Hund sollte sie auch noch zum Tierarzt gehen Mir gegenüber zwei Männer in Jeans und Sportjacken, die eine Unterhaltung über das Eishockeymatch führen, das heute Abend stattfinden wird. Sie sind beide schon wirklich gespannt, ob ihr Verein es wider Erwarten schaffen wird, den favorisierten Gegner zu besiegen, eine kleine Chance besteht immerhin. In einer Ecke neben der Tür ein junges Mädchen mit Schultasche am Rücken, das angespannt in einem Schulbuch liest, zwischendurch Pausen einlegt, an ihren Fingernägeln kaut und sich das Gelesene zu merken versucht. Die Stimmung, die an diesem Morgen in dem U-Bahn-Waggon in der Luft liegt, ist dem Zerreißen nah, voll von An/Über/Ab/-Spannung, kein Wunder, wenn meine Verspannung in der Schulter sich nachher noch schmerzhafter anfühlen wird. Ein Wirrwarr zu stark gespannter Nervenbänder, die jeder mit sich trägt. Der Tonfall der überspannten Lady klingt inzwischen immer hysterischer, die Lautstärke ihrer Stimme steigert sich kontinuierlich, bis sie für alle unüberhörbar ins Telefon schreit: «ICH soll mich zusammenreißen?! ICH?»