Zwei Häuser verschwindentun & lassen

1150 Wien. Wo einst zwei Biedermeierhäuser standen,
klafft heute eine Baulücke. Ein Neubauprojekt verspricht Luxuswohnraum mit Tiefgaragen – im Bezirk mit dem niedrigsten Durchschnittseinkommen Wiens.

Text: Valentine Auer
Fotos: Benjamin Storck

Sommer 2018. Ein klirrendes Geräusch. Frühmorgens treibt es den Rudolfsheim-Fünfhauser Georgij Melnikov an sein Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet er beginnende Bauarbeiten an zwei Biedermeierhäusern. Ein Gerüst wird hochgezogen, Fenster eingeschlagen, die Fassade abgetragen. Zwei Jahre später ist statt der Häuser an der Äußeren Mariahilfer Straße 166 und 168 leerer Baugrund zu sehen. Übriggeblieben sind nur wenige Ziegelsteine – von Melnikov auf Karton geklebt. Darüber das Wort «Ragebürger». Ein Kunstprojekt. Und ein Symbol der Veränderungen im Grätzl.

Der vergessene Stadtteil.

Im Zentrum der sich ändernden Gegend rund um die Äußere Mariahilfer Straße liegt die Reindorfgasse, für viele Symbol der Gentrifizierung im Bezirk. Unternehmer_innen und Anrainer_innen vor Ort lachen darüber: Gentrifizierung? Da sei noch viel Luft nach oben, heißt es. Klar, es gibt die hippen Lokale, neben Biomodeshop, Buchcafé und Second-Hand-Shop reihen sich verschiedene Galerien. Eine dieser Galerien gehört Melnikov, der auf die Wiener Tschocherl, auf rumänische und türkische Frisörläden verweist. Auch die gehören zur Reindorfgasse, meint er.
Er erinnert gleichzeitig an die Wiener Spitzenkandidaten der FPÖ und ÖVP: In einem Interview mit der Bezirkszeitung kurz vor der Wien-Wahl 2020 bezeichnen beide Rudolfsheim-Fünfhaus als den Bezirk, den sie am schlechtesten kennen. Wenig überraschend, denn der Anteil der nicht-wahlberechtigten Wiener_innen ist hier mit 42 Prozent im Bezirksvergleich am höchsten. «Man ist ein bisschen der vergessene Teil der Stadt», sagt Melnikov. Er lebt seit rund zwanzig Jahren hier. Natürlich ändert sich vieles. Zum Guten, findet der Künstler. An eine Gentrifizierung, bei der «alles von Bobos aufgekauft wird», glaubt er nicht.

Stadtoase im falschen Grätzl.

Immobi­lienunternehmen scheinen die Aufwertung ernster zu nehmen. Die metaphorische Luft nach oben wird buchstäblich gefüllt. Zum Beispiel von Avoris – verantwortlich für die abgerissenen Biedermeierhäuser. Statt den zweistöckigen vorgründerzeitlichen Häusern soll ein siebenstöckiger Neubau entstehen, aus leistbarem Wohnraum werden teure Eigentumswohnungen. Statt auf Grünraum wird auf Beton und dank Tiefgarage auf Individualverkehr gesetzt.
«Wiener Stadtoase» nennt Avoris das Neubauprojekt. So nett das klingt, so fehl am Platz wirkt es: Tiefgaragen in einem Bezirk, dessen Verkehrsflächen bereits jetzt zu 64 Prozent aus Fahrbahnen und Parkflächen für Autos bestehen, und das in einem Bezirk, in dem 73 Prozent der Anrainer_innen kein eigenes Auto besitzen – nirgendwo in Wien ist dieser Wert so hoch. Luxuswohnungen in einem Bezirk mit dem niedrigsten Durchschnittseinkommen Wiens.

Abriss und Widerstand.

Zahlen, die mit ein Grund für den Widerstand gegen das Bauprojekt sein dürften. Otto Bayer hat sich bis zuletzt gewehrt. Sein Vater eröffnete nach dem Zweiten Weltkrieg ein Juweliergeschäft in der Mariahilfer Straße 166, das Otto Bayer später übernahm. «Ich bin hier aufgewachsen», erzählt er, «anfangs wollte ich gar nicht raus.» Erst als sich der Abriss 2020 als unvermeidlich abzeichnete, zog er um.
Bis dahin war es ein mühsamer Weg: Im Juni 2018 begann die Abbruchfirma ihre Arbeit. Dass die Häuser noch bewohnt waren und im Erdgeschoss Geschäftslokale betrieben wurden, war egal. Genauso die Tatsache, dass eines der Häuser vor wenigen Jahren generalsaniert worden war. Jetzt musste es schnell gehen. Bald würde eine neue Bauordnung in Kraft treten, Kern der Novelle: Um abzureißen, müssen vor 1945 erbaute Gebäude künftig als «nicht erhaltenswert» eingestuft werden. Die Biedermeierhäuser waren etwa 180 Jahre alt. Ein Abriss würde nur schwer durchsetzbar sein. Die Beschädigung der historischen Fassaden erleichterte ihn.
Dennoch: Vorerst verhängte die Stadt Wien einen Abrissstopp. Aufatmen, direkt nach dem Inkrafttreten der Novelle. Auch für Otto Bayer. Gemeinsam mit 499 anderen Menschen unterschrieb er eine Bürger_innenpetition für den Erhalt der Häuser. Das Anliegen wurde im Petitionsausschuss behandelt. Das Ergebnis: Die Wiener Politik positionierte sich gegen den Abriss. Avoris sprach zwischenzeitlich von Sanierung.
Ein kurzfristiger Erfolg. Das Verwaltungsgericht bestätigte den Abrissstopp, Avoris suchte jedoch um Revision an und bekam Recht. Im Juni 2020 entschied der Verwaltungsgerichtshof, dass der Abrissstopp rechtlich nicht gedeckt sei. Einen Monat später wurden die Abbrucharbeiten weitergeführt. Otto Bayer war zu diesem Zeitpunkt schon weg. «Die alternativen Geschäftslokale, die Avoris vorschlug, waren uninteressant – irgendwo in kleinen Seitengassen versteckt. Da begann ich selbst zu suchen», erzählt er.

Unwirtschaftliches Sanieren.

Das Verlassen des ihm so bekannten Lokals war schwierig. Entschädigungen wollte Avoris anfangs kaum zahlen. Bayer kämpfte und konnte seine Vorstellungen durchsetzen. Die Lage des neuen Geschäftslokals ist gut. Er ist zufrieden. Einerseits. Andererseits enttäuscht, zum Beispiel von der Politik: «Die Bezirksvertretung setzte sich zu wenig ein. Ein Bezirksrat, der uns half, wurde zurückgepfiffen», erzählt Bayer.
Das fehlende Eingreifen der Politik ist altbekannt. Spätestens seit der Finanzkrise sind Immobilien gefragte Anlageobjekte, Bebauungspläne ändern sich laufend. Plötzlich kann höher und größer gebaut werden. Schutzzonen, die den Abriss alter Häuser verhindern, gibt es zu wenige. Sanieren gilt als unwirtschaftlich. Ein Neubau bedeutet mehr Geld für Immobilienfirmen und Spekulant_innen.
Die Auswirkungen davon sind zunehmend sichtbar. Auf seiner Website wienschauen.at dokumentiert Georg Scherer Wiens Stadtentwicklung, auch abgerissene Gründerzeithäuser im 15. Bezirk sind dort aufgelistet. Zum Beispiel ein Gründerzeithaus in der Diefenbachgasse 9, abgerissen 2018. Das dortige Neubauprojekt wirbt mit «Mikro-Lofts» und «klassischen Anlegerwohnungen». Oder der Abriss des «blauen Hauses» 2019. Wohnen soll dort niemand mehr, das Haus wich einer IKEA-Filiale.
Große Handelsketten statt kleiner Einzelhändler_innen. Nicht untypisch für den 15., weiß Bayer: «Die Äußere Mariahilfer Straße war sehr attraktiv. Es gab eine aktive Erdgeschoßzone und viele Fachgeschäfte. Heute fehlt jeglicher Branchenmix.» Die schrittweise Aufwertung des Bezirks betrachtet er kritisch. «Anstatt alte Häuser und leistbare Wohnungen zu erhalten, ziehen sie Luxusbuden hoch. Wer kann sich das leisten?»

Baupolitik für wen?

Georgij Melnikov ist den Änderungen gegenüber ambivalenter. Das symbolisieren auch die Ziegelsteine der Biedermeierhäuser. Während der Baustelle brachte er Ziegel für Ziegel in Sicherheit, heute stellen sie eine Art künstlerisches Puzzle dar. «Ragebürger» statt «Ravensburger». «Das spielt auf Proteste an», erklärt Melnikov. Ziegel, die potenziell als Wurfgeschosse dienen. Gleichzeitig erinnern sie an die abgerissenen Häuser. «Das ist ambivalent. Am Alten festzuhalten ist konservativ. Wutbürger, die zurück in die Biedermeierzeit wollen», so Melnikov. Letztlich gehe es bei der Aufwertung eines Grätzls um die Balance, um das, was gut für die Bewohner_innen ist.
Bleibt die Frage, für welche Bewohner_innen. Ein abschließender Blick auf die Zahlen zeigt, dass Wiens Bevölkerung nur noch leicht wächst. Seit 2018 leben jährlich zwischen 12.000 und 13.000 Menschen mehr in der Bundeshauptstadt. Im 15. Bezirk ist die Bevölkerungszahl seit 2017 rückläufig. Demgegenüber stehen wienweit 19.000 Wohnungen, die heuer fertig gestellt werden. Die Bautätigkeit sinkt künftig zwar, 2021 erwartet Wien trotzdem einen Wohnungsüberschuss. Dieser kann mit Vorsorgewohnungen gefüllt werden, ein aufgewertetes Grätzl hilft beim Verkauf. Wohnungsknappheit gibt es trotzdem: Ist das Angebot an höherwertigen Wohnungen gedeckt, fehlen leistbare Wohnungen.
Veränderung ist also notwendig: Eine veränderte Baupolitik, durch die Menschen nicht mehr aus ihren Wohnungen verdrängt werden können, gehört genauso dazu wie ein verändertes Verständnis von Wohnraum – nicht als Spekulationsobjekt, sondern als Ressource zum Decken eines Grundbedürfnisses.