Zwei Welten: Unterschicht und Überbauvorstadt

Am Donaukanal ist eine Subkultur in Tuchfühlung mit dem großen Kapital

Geschichte sind Schichtungen, die sich überlagern und Schicht für Schicht erst «die Geschichte» ergeben. Der Donaukanal spiegelt diesen Kultur- und Klassenkampf auf mehreren Ebenen wider, eine These von Karl Weidinger (Text und Fotos).Der Donaukanal ist die dem Stadtzentrum nächstgelegene Wasserfront. Er wurde einst auch «Wiener Wasser» oder «Wiener Arm» genannt. Der Begriff «Kleine Donau» konnte sich nicht durchsetzen. Im Mittelalter war der Lauf des heutigen Kanals der Hauptarm. Auf der höheren Trasse am Südwestufer wuchs die Stadt. Die Donau führte regelmäßig Hochwasser. Eisstöße und Überschwemmungen kamen so sicher wie Frühjahr und Herbst, in denen die Gefahr am größten war. Das Flussbett schrieb sich immer wieder neu in die Landkarte ein. Um 1700 kam die Bezeichnung «Donaukanal» auf.

Der Hauptstrom, wie wir ihn heute kennen, ist kaum 140 Jahre alt. Durch die Jahrhunderte suchte sich die Donau ihren Weg durch die Innenstadt. Die Donauregulierung von 1868 bis 1875 fixierte den Verlauf (bis zum Bau der Donauinsel, etwa 100 Jahre später). Neue Bezirke wie die Brigittenau entstanden, die Leopoldstadt wurde zur Insel.

Seit dem Mittelalter wurden Versuche der Zähmung unternommen, um Landungsstellen in der City zu erhalten. Auch die Bezeichnung «Lände» steht für die Möglichkeit des Anlandens. Inzwischen ist hier «Raiffeisen-Offshore» an Land gegangen. Im ausufernden «Über-Bau» setzen die glitzernden Buchten einer rasant wachsenden Skyline weithin sichtbare Zeichen ihrer Dominanz. Die neuen Kapitalismus-Kathedralen sind hier auf erschwinglichen Baugrund gelaufen. Eine Besiedelung der Lüfte, des Landes und des Wassers am Kanal, eingefügt zwischen Downtown-Innenstadt und den uneinsehbar verspiegelten Protzfassaden von News-Tower und Uniqa-Hochhaus. Hier fließt nicht nur das edelserpentinfärbige Wasser, sondern auch das Geld der anderen.

Die zwei Welten am Donaukanal sind von der Straße nicht einsehbar. Hier treffen Unterschicht und Überbau aufeinander, aber begegnen und vermischen sich kaum. Fuß- und Radvolk kontra abgehobene Elite, die vom Kapital der anderen lebt und sich dieses längst angeeignet hat. Jeder Bevölkerungsteil hat seinen fix zugewiesenen Platz. Die Erdgeschoßzone fällt überdeutlich abweisend aus. (In einigen Jahrzehnten wird diese wehrhafte Verteidigungshaltung zu ebener Erd‘ wieder Anlass für Interpretationen geben.) Die Tiefgaragen sind abgeriegelte Bunker für Autos und durch restriktive Legitimationen für die Zufahrt geschützt. Die Portalzone gestaltet sich wenig einladend. Sicherheitsschleusen werden für die massive Zugangsbeschränkung genützt. Hier darf niemand rein, der nicht darf. Die Agora, der Marktplatz, ist kein öffentlicher Bereich mehr. Öffentlichkeit und Vermischung unerwünscht.

Der historische Donaukanal war immer eine Wasserstraße für alle. Sein Ausbau wurde nach der Ringstraße in Angriff genommen. Die Ausgestaltung der Kaimauern schuf der allgegenwärtige Otto Wagner im Jahre 1896. Nach seinen Plänen wurden die 15 Meter breiten Vorkais errichtet. Mit einem Standort für Fischmärkte und Anlegestellen für die Personenschifffahrt sowie Umschlagplätze für den Handel. Die Habsburger mussten aber vor etwa 120 Jahren den Bau der Stadtbahn vorziehen, um damit Soldaten und Truppen verlegen zu können. So blieb der Donaukanal auf der Strecke.

Eine von 1946 an tagende Arbeitsgruppe versuchte, das linke, mehr besonntere Kanalufer im 2. und 20. Bezirk als Freizeitpromenade zu gestalten – wie besungen von Heinz Conrads «a schräge Wies’n am Donaukanal, is mei Riviera auf jeden Fall». Mit dem Aufkommen des Automobils traten nötig gewordene Ausbauten des Straßenverkehrs immer mehr in Konkurrenz zu diesem Vorhaben (inzwischen ist der Auto-Anteil rückläufig). Seitdem besteht ein «Masterplan Donaukanal». Und er tagt und tagt und tagt. Die Leitlinien für die Entwicklung des Donaukanals beäugen das «Spannungsverhältnis zwischen konsumfreier Erholung und Kommerzialisierung» kritisch. – Wie wahr! Wie wahr! Hört. hört. Oder mit anderen Worten: Saufen am Sand.

Public Viewing und Intensivbewirtschaftung stehen im Tagesgeschäft auf der Agenda. Im Juni landet die Fußball-EM auf den Großbildschirmen. Ein «urbanes Heurigen- und Beachkonzept» scharrt mit den Hufen und tarnt geschickt eventuelle Pferdefüße. Die für 800 Plätze konzipierte Sauf- und Drauf-Mall namens «Sky&Sand» kommt nicht. Der Petitionsausschuss im Gemeinderat hat sich gegen eine gastronomische, äußerst groß dimensionierte Nutzung einer der wenigen konsumfreien Flächen entlang des Kanals ausgesprochen. Vorerst noch! Aber bei den Bezirkspolitiker_innen blinken schon die Euro-Stückerln in den Augen.

So richtig wichtig wurde der innerstädtische Seeweg im Sommer 1976. Der Einsturz der Reichsbrücke am 1. August blockierte bis zur Errichtung einer provisorischen Schifffahrtsrinne den Donauverkehr. Als Notbehelf wurden bis Ende September rund 150 Schiffe und Schleppkähne durch die City dirigiert. Weil aber die Bauarbeiten der U1 beim Schwedenplatz zu dieser Zeit den Kanal verengten, war die Nutzung nur eingeschränkt möglich.

Der Fischbestand hat hier einen Rückzugsraum gefunden, seit der einmündende Wienfluss natürliche Barrieren und Stromsperren aufweist. Neue gewässerkundliche Untersuchungen der Uni Wien belegen einen Rückzugsraum für etwa 30 Fischarten, die in der Donau bedroht sind, aber im Donaukanal ein neues natürliches Habitat gefunden haben.

Wie es auch immer mehr Nachtvögel als Wasservögel ans Wasser zieht. Seit 2010 gedeiht der Aufschwung, um hier statt einer Flanier-, Rad- und Bademeile eine Konsum- und Partymeile hochzufahren. Doch die ungesicherten Kaimauern sind ein Sicherheitsrisiko. Nicht genehmigte Badestellen weiter oberhalb, an den wildromantischen Gestaden des 9., 19. und 20. Bezirks, locken als Abenteuerspielplätze für Unerschrockene. Die Strömung und der Schiffsverkehr sind jedoch eine ernstzunehmende Warnung.

Das Areal der Wasserfläche gehört zum 20. bzw. 2. Bezirk. Aufgrund seiner zentralen Lage hat sich der Donaukanal in den letzten Jahren dank zahlreicher Infrastrukturprojekte vermehrt zu einem Freizeit- und Erholungsraum entwickelt.

Zwischen Ringturm und Urania entstand eine «nachtaktive» Wasserfront auf beiden Uferseiten. Unter Pachtbedingungen und Mietverträgen, die sich jeder für sein Zuhause wünschen würde. Erklärtes Ziel ist es, das Gewässerumfeld in die kapitalträchtige Event-Verwertungskette einzugliedern. Die Agenda-Agenten verweisen auf ihre Pipe-Lines, Projekte in den Startlöchern. Immer ein offenes Ohr für Public-Private-Partnership (wahrscheinlich ist das Wasser bis 2099 verkauft und wird günstig zurückgeleast mit Fremdwährungskrediten). Pläne für neue Bauten, großflächige Überplattungen, schwimmende Hotels und yuppige Hausboote tauchen immer wieder auf wie Moorleichen. 2010 ging beim Schwedenplatz die neue Schiffstation «Wien City» vor Anker. Von hier aus stechen sowohl der Twin City Liner nach Bratislava sowie Johann Litschauers erstes Wiener Bootstaxi in See.

Ringsum locken Street-Art, Graffiti und öffentliches Kunstwerken sowie flächendeckendes Urban Gardening. Das junge bunte Volk ist gerade dabei, den Raum – als Vorstufe zur Gentrifizierung – einzuebnen. Der Weg steht fest, die Richtung passt. Alles rollt wie auf einer schiefen Ebene – pardon: wie auf a schrägen Wies’n am Donaukanal.

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