Das neue MAG 166 Gesundheitszentrum
«Wohnst du noch, oder lebst du schon?», fragte die Werbung knapp nach der Jahrtausendwende. Ein paar Jahre früher begann die Geschichte der Neunerhaus-Bewegung. Karl Weidinger (Text und Foto) liefert einen aktuellen Einblick.
(Die Straßenfront ist entscheidend fürs «Grätzl-Building»: Mit der Übersiedlung des Gesundheitszentrums ins Erdgeschoß ging eine Öffnung einher)
Wiens politische Führung vertrat 1998 noch die Ansicht, dass Obdachlosigkeit in Wien kein Thema sei. Bürgermeister Michael Häupl erklärte die 5.500 Betroffenen für gut versorgt und ortete einen Rückgang der Zahl jener Menschen, die von Wohnungsverlust bedroht sind. Wiens Obdachlosenheime wären gar nicht ausgelastet, so die offizielle Sichtweise. Der Augustin, den es schon seit 1995 gibt, zeichnete ein anderes Bild. Immer mehr und immer jüngere Menschen fanden sich auf der Straße wieder, um dort zu leben und auch wohnen zu müssen.
Wohnen und Leben.
Engagierte Bürger_innen des 9. Bezirks wollten das nicht hinnehmen und wurden aktiv. So entstand noch vor der Jahrtausendwende das erste Neunerhaus rund um den Franz-Josefs-Bahnhof – und später die Pyramide mit der Kaskade an fallenden Buchstaben als Logo «n-eu-ner-haus».
«Die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen wurden ins Betreuungskonzept einbezogen. Neben der Linderung von Leid und Entbehrung sollen körperliche Gesundheit und eine persönliche Stabilisierung die soziale und berufliche Integration fördern, um ein Leben in Würde zu ermöglichen», erläutert Daniela Unterholzner den damals neuen Weg. Gemeinsam mit Elisabeth Hammer leitet sie jetzt als Geschäftsführerin das operative Tagesgeschäft. «Mit dem Ziel, bedürftigen Menschen ein Zuhause zu geben, das diesen Namen auch verdient. Bis es so weit war, hatten es Paare oder Obdachlose mit Tieren schwer, einen Heimplatz zu bekommen. Außerdem war die Bleibe meist zeitlich begrenzt», sagt Niki Kunrath, der für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Also eher ein temporäres Dahinvegetieren, um aus dem Gröbsten draußen zu sein.
Richtung Normalität.
Sobald es wärmer wurde, zogen viele Betroffene das «Campieren» im öffentlichen Raum den streng geführten Obdachloseneinrichtungen vor. Wer sich arrangieren konnte, kam nur zum Übernachten. Es herrschten Verbote: Menschen mit Alkoholproblem waren ausgeschlossen und mussten ihre Sucht gut tarnen und verstecken. Mit der Initiative zum Neunerhaus änderte sich vieles. Wie auch in der Vinzi-Gemeinschaft wurden Alkohol und Tiere erlaubt. Das sorgte für mehr Wohnlichkeit bei den individuellen Bedürfnissen. Ein Schritt in Richtung Normalität. Erst Wohnen mit Alkohol und Tieren ermöglicht ein richtiges, normales Leben.
Im September 2017 erweiterte das Neunerhaus sein Gesundheitszentrum in der Margaretenstraße an der Ecke zum Gürtel. Für obdachlose und armutsgefährdete Menschen – mit und ohne
E-Card bzw. Sozialversicherung. Das «MAG 166» zog ins Erdgeschoß. Drei offene Portale führen zur allgemein- und zahnmedizinischen Versorgung sowie zur sozialen Beratung. Bei der ebenfalls im Haus untergebrachten tierärztlichen Versorgung kümmert sich ehrenamtliches Fachpersonal um die ständige Begleitung von Menschen in Einrichtungen der Wiener Wohnungslosenhilfe. «Durch die Anhebung der Hygiene-Standards sind die gleichwichtigen Aspekte in der Mensch- und Tiergesundheit leichter zu bewerkstelligen», weiß die Leiterin der tierärztlichen Versorgungsstelle Dr. Eva Wistrela-Lacek. Hilfe bedeutet hier, dass Tiere von wohnungslosen und bedürftigen Menschen kostenlos behandelt werden.
Grätzl-Building.
In drei Neunerhäusern und etwa 80 Housing-First-Wohnprojekten werden mittlerweile rund 500 Menschen betreut. Mehr als 4000 Patient_innen frequentieren die (Zahn-)Arztpraxis jährlich. Augenärzt_innen und Gynäkolog_innen ergänzen das Angebot der Hilfestellung, wie auch das mobile Team «neunerhausarzt».
Und nun wurde Bilanz gezogen. Es gab einen Blick hinter die Kulissen des neuen MAG 166. Der Tag der offenen Tür stand unter dem Motto «Hereinspaziert!» Eigentlich wäre der neue Standort ein «Fünferhaus», der Funktionalität wegen.
Erstens Gesundheitszentrum, weil das ist das Wichtigste: Zu helfen, wo (Erste) Hilfe vonnöten ist. Zweitens ein Sozialzentrum für angewandte Betreuung: Unterstützung in die richtigen Bahnen zu lenken. Drittens ein Nachbarschaftszentrum, das ein «Grätzl-Building» ermöglicht: Die sozialen Schwellen niedrigzuhalten. Viertens kommt das Café als Treffpunkt hinzu – eine konsumfreie Zone, mit wirklich gutem Mittagstisch und Barista-Kaffee: Um die Rechnung braucht sich keine_r Sorgen zu machen – bezahlt wird, was jede_r will. Fünftens und garantiert keine Nebensache: Tierärztlichen Support für die Begleitung des in Not geratenen Menschen zu sichern.
Radio Augustin sendet am 19. Februar um 15 Uhr auf Orange 94,0 eine Reportage übers Neunerhaus.
www.neunerhaus.at