Walter Pichler, literarisches AUGUSTIN-Urgestein
Walter, du Lump. Wie stellst du dir das eigentlich vor. Jetzt hast du schon monatelang nichts mehr für den AUGUSTIN geschrieben. Hat dir jemand die Lust aufs Schreiben ausgetrieben?Meine Sorge, mein Interesse ist ungeheuchelt, ist keine pädagogisch motivierte Inszenierung (die vielleicht statthaft wäre, wenn es darum ginge, jemandem zum Schreiben zu ermuntern, der von Unsicherheit in Bezug auf sein Schreibalent geplagt ist). Mir gehen Walter Pichlers Texte wirklich ab, es sind ästhetische Irrgärten, die man nicht überfliegen kann wie viele andere Texte im „Werkstatt“-Teil, sondern in die man eindringen muss, um Absatz für Absatz abzuarbeiten. Qualifizierte Prosa, gespeist aus einer Vorstellungskraft, die ich gern hätte.
Walter hat gleich eine Mehrfachbegründung für seine schöpferische Pause parat. „Erstens: In meinem winzigen Untermietkammerl, in dem ich zur Zeit lebe, gibt’s keinen Platz und keine Ruhe zum Schreiben. Zweitens: Ich bräuchte einen Ideenspeicher. Beim Spaziergehen oder bei der Fahrt im Zug fällt mir viel ein. Und dann bin ich zuhause, und die Ideen sind weg. Wer schenkt mir ein Diktaphon? Drittens: Der Alkohol. Meine Suchtphasen beeinflußen mein Schreibverhalten. Die absurdesten Einfälle bleiben dann unverwertet, weil ich in meinem Zustand nicht schreiben kann.“
Die literarische Qualität von Walter Pichlers Texten ist auch der Geisteswissenschaftlerin Verena Kautz sofort aufgefallen. Für ihre Diplomarbeit „Literatur vom Rande der Existenz. Eine Untersuchung ausgewählter Literaturwerkstatt-Texte von Autoren der Obdachlosenzeitung AUGUSTIN“ hat sie sich in Pichlers Prosa vertieft..
Ihr einschlägiges Urteil: „Walter Pichler arbeitet besonders gern und auch besonders gekonnt mit zumindest zwei Textebenen, nämlich einer vordergründigen und einer dahinterliegenden, die zu ergründen man seine Texte mehr als nur einmal lesen muss. Sein auffälligstes Stilmerkmal ist die Verwendung von doppeldeutigen Symbolen, die leitmotivartig durch seine Geschichten führen… Aber auch von diesen wunderbaren Leitmotiven abgesehen, besticht Walter Pichlers Sprache, indem sie auf eine ganz besondere Art und Weise nicht nur Inhalte, sondern auch Stimmungen und Gefühle zu transportieren vermag… Manche Dinge werden nicht sofort auf der oberflächlichen, sondern erst bei näherer Betrachtung auf einer weitaus subtileren, sprachlichen Ebene erkennbar. Der Autor bezieht seine Leser nämlich insofern in den Entstehungsprozess seiner Literatur mit ein, als er versucht, Assoziationen bei ihnen zu wecken und mit diesen Assoziationen zu spielen. Dadurch lässt Walter Pichler seinem Rezipienten genug Platz, quasi zwischen den Zeilen zu lesen und so auf der Suche nach einer persönlichen Lieblingslesart die eigenen Gedanken miteinzubeziehen. Damit kommt dieser Autor jenem Prinzip sehr nahe, von dem wir schon bei Sartre gehört haben, nämlich dem Lesen als gelenktem Schaffen.“
Schreiben aus dem Weltschmerz heraus
Walter Pichler ist AUGUSTIN-Urgestein. Schon in der allerersten Ausgabe war er mit einer Kurzgeschichte vertreten. Damals, vor fünf Jahren, war Pichler 42 Jahre alt: Solange hatte er warten müssen, bis jemand seine Texte veröffentlicht. Dabei hatte er schon als 14jähriger zu schreiben begonnen.
Geboren wurde Pichler im obersteirischen Eisenerz. Die Mutter starb, als er fünf war, der Vater „vertschüsste sich“ nach Deutschland. Dieser wollte seinen Sohn später in das Heim für „Schwererziehbare“ nach Kaiserebersdorf stecken, eine umsichtige Ärztin ersparte jedoch dem Kind dieses Schicksal und vermittelte es an ein Pro Juventute-Kinderdorf. Walter bekam Zieheltern.
In den 80er Jahren arbeitete er gelegentlich in der Altenbetreuung. Doch die Alkoholsucht verhinderte in Fußfassen in einem Beruf. „Als ich Anfang der 90er Jahre wieder einmal meine Zieheltern besuchte, sagten sie: Naja, jetzt ist der Walter da, jetzt wird das Bier nicht mehr sauer im Keller. Mein Ziehvater motivierte mich, es mit Kalksburg zu versuchen.“
Die 90er Jahre waren geprägt von Versuchen, vom Alkohol wegzukommen. Stabilisierungsphasen und Rückfälle wechselten einander ab. Für erstere war vor allem die Therapie in Ybbs an der Donau verantwortlich, für letztere: Walter Pichler. „Unter die Brücke“, auf die Straße, in die Gruft kam Pichler nie: Dieses den herkömmlichen AUGUSTIN-Mitarbeiter „adelnde“ Schicksal blieb ihm erspart. Zuletzt wohnte er bei der Emmaus-Gesellschaft in St. Pölten und in einem Wiener Caritas-Wohnheim in der Gfrornergasse.
Zur Zeit schläft Walter Pichler, wie erwähnt, in Untermiete. Im Kampf gegen die Isolation wie im Kampf gegen die Sucht findet er Unterstützung in den Gemeinschaftserlebnissen beim „Blauen Kreuz“. Die Gnade der Kollektivität erfährt er auch als Ensemblemitglied eines „Kreativ-am-Werk“-Theaterprojekts unter der Trägerschaft der Wiener Caritas. Das Stück heißt „The Show must go on“, und Pichler spielt darin eine tragende Rolle (eine Video-Vorführung des Stücks kann am Donnerstag, 21. September, um 19.30 Uhr im Speisesaal des Obdachlosenheims Gfrornergasse gesehen werden, und wer mit Walter Kontakt aufnehmen will, kann auch die Theaterprobe am Samstag, 23. September, 14-18 Uhr im Pfarrsaal Schedifkaplatz besuchen).
Als Walter Pichler mich besuchte, um sich für dieses „Heroes“-Portrait befragen zu lassen, kam er gerade vom Arbeitsamt. Kein Job in Sicht, wie gehabt. Pichler aber schien sich nicht im Klaren zu sein, wie er dieses Abgeschnittenwerden von den disziplinierenden Verhältnissen der Berufswelt einschätzen sollte. Einerseits fühle er sich so, wie er sei, sehr frei. Andrerseits verzweifle er oft am Fehlen einer Tagesstruktur.
Doch ist nicht die Verzweiflung eine Quelle der Literatur? Auf die Frage von Verena Kautz, in welcher Gefühlslage er sich befinden müsse, um schreiben zu können, antwortete Pichler: Er werde immer aus einem gewissen Weltschmerz heraus schreiben, eigentlich nie aus einer Hochstimmung heraus.
Und weil nun einmal die Verhältnisse in unserer aggressiven Gesellschaft nicht so sind, dass sie einen Aussortierten wie Walter Pichler dauerhaft in Hochstimmung versetzen könnten, darf man wohl hoffen, demnächst wieder auf Pichler-Geschichten in diesem Hefte stoßen zu dürfen.