Zwischen Galgen und Erbarmentun & lassen

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Armut ist gleichzeitig aufdringlich und unsichtbar, laut und verschämt. Den Bildern vom „tragischen Armen“ stehen jene des „glücklichen Armen“, des „unechten Armen“, des „edlen Armen“ gegenüber. Der „würdige“ Arme hat ein Kindergesicht, ist getroffen vom „Schicksal“ und erweist sich dankbar gegenüber allem, was ihm zukommt. Der „unwürdige“ Arme trägt Schuld, ist widerspenstig oder faul.Die Spaltung in „Würdige“ und „Unwürdige“ hat eine lange Tradition: Am Beginn der Neuzeit steht der Wunsch, dass die Obrigkeit dafür zu sorgen habe, dass die Armen verschwinden und die Armut unsichtbar werde. „Nur nichts verschwenden, am allerwenigsten an Arme, denn letztendlich sind diese selber schuld an ihrem Los. Der Neuzeit, die das große Lob der Arbeit singt, wird der Arme verdächtig“, so der Philosoph Konrad Paul Liessmann. „Wenn jeder sein Glück seiner Leistung verdanken soll, wird der, der nicht leisten kann oder will, zum Außenseiter.“ Seit dem letzten Jahrhundert schon ist der Armutsdiskurs von zwei Vorbehalten durchsetzt: dem Verdacht, dass Armut nur Ausdruck von Arbeitsunwilligkeit sei, und dem Versuch, den Anblick von Armut aus den Zentren des öffentlichen Lebens zu verbannen. Resultate waren, wo es sich durchsetzen ließ, Arbeitszwang, Arbeitshäuser und die Stigmatisierung der Armen zu Sündenböcken am sozialen Rand der Gesellschaft. Der Umgang mit Armut war in den letzten Jahrhunderten stets zwischen Galgen und Erbarmen angesiedelt.

In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts setzte die Habsburgermonarchie mit dem Heimatgesetz den rechtlichen Rahmen für ihre Armenversorgung. Zuständig war die Gemeinde, in der man geboren oder als Frau verheiratet war. Eine Regelung, die im Industriezeitalter und der mobilen Suche nach Arbeit immer weniger die existentiellen Nöte der verarmten Bevölkerung abdecken konnte. Die Bedingungen, die aus strikter Anbindung an die Heimatgemeinde, Arbeitspflicht, Kontrolle, Entzug des Wahlrechts, Disziplinierung und dem Fehlen von Rechtsansprüchen bestanden, wurden mit dem Vagabundengesetz in den 1880er Jahren noch verschärft. Hungersnöte und Ernährungskrisen waren nicht mehr die Hauptursache von Armut. Sie wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert durch die Probleme der Erwerbsarbeits- und Obdachlosigkeit abgelöst. Die hochqualifizierten Facharbeiter_innen waren kaum armutsgefährdet, „sehr wohl aber die übrigen Arbeiter_innen sowie die Kleinhäusler_innen und andere Unterschichten des ländlichen Bereichs“, analysiert der Sozialhistoriker Gerhard Melinz.

Der Aufbau der ersten Sozialversicherungssysteme Ende der 1880er Jahre setzte den Beginn hin zu einer aktiven Wohlfahrtspolitik, während gleichzeitig das „Armenwesen“ in seinem rechtlosen Almosencharakter verblieb. Damals schon spaltete sich die Sozialpolitik auf in eine disziplinierende Armutspolitik und eine mit Rechtsanspruch begründete Arbeiterpolitik. Hier die Sicherung jener Lebensrisken, die über Lohnarbeit bzw. Erwerbsarbeit mit Rechtsanspruch und Sozialversicherung abgefedert werden, dort die Absicherung übriger Risken in lediglich löchriger und abweisender Form. Diese Grundprinzipien haben die Sozialgesetze geprägt – und beeinflussen bis heute die Ausgestaltung des unteren sozialen Netzes.

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