Zwölf Stunden sind nicht genugtun & lassen

Autorin Gabriela Obermeir

Persönliche Assistenz gibt Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.
Rund 1.200 Menschen sind es in Österreich, die das Modell im Privatbereich
in Anspruch nehmen. Gabriela Obermeir ist eine von ihnen.

 

Gabriela Obermeir sitzt an ihrem Küchentisch und tippt etwas in den Laptop. Auf dem massiven, langen Holztisch stapeln sich zwischen Aschenbechern und Kaffeehäferln verschiedene Zeitungen. Im Ofen bäckt ein Strudel, auf dem Tisch brennt eine Kerze, darunter schläft ein kleiner, brauner Hund friedlich in seinem Körbchen. Es ist eine Szene, wie sie in vielen Haushalten Wiens zu finden ist. Mit einem Unterschied: Gabriela Obermeir sitzt im Rollstuhl. «Magst du eine Zigarette, Gabi?», fragt ihre Assistentin Ira und hält bereits die Schachtel in der Hand.
Laut Sozialministerium leben in Österreich rund 1,3 Millionen Menschen mit Behinderungen, darunter fallen auch psychische Beeinträchtigungen wie Depressionen oder Burnout. Menschen mit Körper- oder Sinnesbehinderung können das Modell Persönliche Assistenz in Anspruch nehmen und sich damit Selbstbestimmung und Unabhängigkeit bewahren. Im Gegensatz zur klassischen Pflege sind bei der Persönlichen Assistenz die Auftraggeber_innen selbst die «Chef_innen» und bestimmen, für welche Tätigkeiten und zu welcher Uhrzeit Unterstützung benötigt wird.

Kein einfacher Weg

«Nachdem mein Mann mich von heute auf morgen verlassen hat, war klar, dass ich jetzt irgendeine Unterstützung brauche», erzählt Obermeir, die 1980 an Multipler Sklerose erkrankt ist. Die gelernte Buchhändlerin war zum Zeitpunkt der Diagnose zwanzig Jahre alt. Sie spricht von einem «leichten» Krankheitsverlauf, da sie sehr lange keine oder nur kleine «Ausfälle» gehabt habe. Seit 2011 bezieht sie Persönliche Assistenz, seit 2012 sitzt die heute 60-Jährige im Rollstuhl.
Während die Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz vom Bund geregelt wird, ist im Privatbereich das jeweilige Bundesland zuständig. In Wien wird das Modell in Form einer Pflegegeldergänzungsleistung (PGE) des Fonds Soziales Wien (FSW) bezahlt. Die Leistung kann von Menschen mit körperlicher Behinderung ab Pflegestufe 3 im berufsfähigen Alter in Anspruch genommen werden, Bezieher_innen wird die Leistung aber auch nach Pensionsantritt weiterbezahlt. 2019 gab es in Wien laut dem FSW 350 Bezieher_innen von PGE für Persönliche Assistenz. Der Weg bis zum Erhalt der Leistung ist nicht unkompliziert. «Der Antrag hat siebzehn Seiten, auf denen der Unterstützungsbedarf detailliert festgehalten werden muss, für praktisch jede Minute des Tages. Das ist eine Herausforderung, aber es ist zu schaffen», sagt Obermeir.

Liegen und warten

Zwölf Stunden Assistenz am Tag kann Gabriele Obermeir mit der PGE finanzieren. Aktuell sind bei ihr fünf Assistent_innen beschäftigt, die im Wechseldienst arbeiten. Jeder Tag von Gabriele Obermeir beginnt und endet mit der Assistenz. Seit sie sich bei einem Unfall im letzten Jahr beide Beine gebrochen hatte, ist ihr das Aufstehen und Umsetzen in den Rollstuhl alleine nicht mehr möglich. Wenn die Assistenz um 21 Uhr Dienstschluss hat, legt sich Frau Obermeir ins Bett. «Danach schlafe ich eigentlich gleich ein. Gegen fünf Uhr Früh bin ich wieder munter, und um neun Uhr kommt die erste Assistentin.» In den Stunden dazwischen bleibt Obermeir liegen und wartet. «Wenn ich allein bin, liege ich nur am Rücken im Bett. Mehr Möglichkeiten habe ich nicht.»
Die Persönliche Assistenz kann auf zwei unterschiedliche Arten organisiert werden. Beim Arbeitgebermodell kann der oder die Assistenznehmer_in die Höhe der Bezahlung selbst festlegen. Allerdings sind die Assistent_innen dann auch direkt bei den Assistenznehmer_innen angemeldet, und es muss eine Steuerberatung für die Buchhaltung engagiert werden. Beim Dienstleistermodell nehmen die Assistenznehmer_innen die Stunden bei einer Assistenzgenossenschaft in Anspruch, die sämtliche Abrechnungen übernimmt. Die Assistent_innen sind in diesem Fall beim Dienstleister angemeldet und versichert. Das Dienstleistermodell ist in der Regel teurer, da im Stundensatz auch die Assistenzgenossenschaft mitbezahlt wird. Auch eine Mischform aus beiden Modellen ist möglich.

Kleine große Taten

«Ira, du musst mich bitte noch schminken», sagt Obermeir in Richtung ihrer Assistentin. Per Knopfdruck startet sie ihren elektrischen Rollstuhl und fährt vorsichtig durch den etwas zu engen Türrahmen Richtung Wohnzimmer. Behutsam nimmt Ira ihrer Chefin die Lesebrille ab und macht sich an die Arbeit.
Die Assistent_innen von Obermeir erledigen all die großen und kleinen Dinge, die sie nicht mehr selbst durchführen kann. Natürlich zählen dazu pflegerische Tätigkeiten wie die Hilfe beim Aufstehen und Anziehen oder bei der Körperpflege. Aber auch Erledigungen für den Haushalt, mit dem Hund Gassi gehen, putzen und einkaufen fallen darunter. Oder Handlungen, die banal erscheinen, wie das Anzünden einer Zigarette.
Die Persönliche Assistenz trägt maßgeblich zur Lebensqualität vieler Assistenznehmer_innen bei. Neben all den Dingen, die erledigt werden «müssen», ermöglichen die Assistent_innen ihren Klient_innen auch die Teilnahme am sozialen Leben und den Erhalt von Hobbys und Leidenschaften. Das kann Obermeir bestätigen: «Mir geht es nicht nur darum, dass ich zurechtkomme. Ich möchte meine verbleibende Lebenszeit, jede Stunde, so verbringen, wie ich das will. Wie es mir Spaß macht.» So spielen ihre Assistent_innen mit Gabriela Obermeir Backgammon oder setzen sich zu ihr aufs Bett, um gemeinsam einen Film anzuschauen. Währenddessen reichen sie ihr nach Bedarf etwas zu trinken oder das Telefon, wenn es läutet. Auch das gehört zum Job.

16 Euro brutto

In Wien bezahlt der FSW für jede genommene Assistenzstunde16 Euro brutto an Förderung. Viel zu wenig, wenn es nach Gabriela Obermeir geht. «Ich würde den Assistenten gerne mehr zahlen. Wenn eine bei mir Boden wischt, und ich kann nur zehn Euro netto in der Stunde zahlen, ist mir das schon unangenehm.» Nicht nur der niedrige Stundenlohn, sondern auch der häufig zu gering eingeschätzte Unterstützungsbedarf durch den FSW bringt sowohl Assistenznehmer_innen als auch Assistent_innen in eine prekäre Lage. Wenn die Förderung zu niedrig ausfällt, müssen Assistenznehmer_innen dringend benötigte Stunden einsparen und bringen sich dadurch unter Umständen in eine gefährliche Situation. Oder die fehlenden Stunden werden von den Betroffenen aus eigener Tasche bezahlt, was viele in finanzielle Schwierigkeiten bringt. «Die meisten Menschen mit Behinderungen schwimmen nicht im Geld», betont Assistentin Ira. Die Assistent_innen können aufgrund der zu niedrig angesetzten Förderung durch den FSW nur als freie Dienstnehmer_innen beschäftigt werden und haben keinen Anspruch auf Urlaubs- oder Weihnachtsgeld. «Es wäre gut, wenn man ein sicheres Einkommen hätte», sagt Ira. «Eine fixe Anstellung, Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld …»

Covid-19 bringt neue Probleme

Die Covid-19-Krise hat gerade auch Menschen mit Behinderungen stark getroffen. Viele zählen aufgrund chronischer Vorerkrankungen zur Risikogruppe und sind dennoch auf den Kontakt mit anderen Personen, etwa zur Pflege oder Unterstützung, angewiesen. Vor allem der erste Lockdown war für Gabriela Obermeir eine psychische Herausforderung: «Bei gutem Wetter kann ich normalerweise herumfahren, mich in einen Gastgarten setzen und unter Leuten sein. Es war hart, nicht raus zu können.»
Von Seiten des FSW wurde schon Ende März 2020 auf die Corona-Pandemie reagiert und die sogenannte «Angehörigen-Regelung» von bisher 30 auf 50 Prozent adaptiert. Durch diese Änderung ist es Angehörigen von Assistenznehmer_innen möglich gewesen, während der Krise mehr Stunden zu leisten, und Assistenznehmer_innen konnten die Anzahl von Assistent_innen, die außerhalb des eigenen Haushalts leben, reduzieren. Ab November 2020 stellte der FSW auch Schutzmaterial wie Masken und Handschuhe zur Verfügung. Ausreichend Informationen, was die Krise für sie als Arbeitgeberin heißt, habe sie jedoch vom FSW nicht erhalten, meint Obermeir. Zum Beispiel, was passiert, wenn eine ihrer Assistent_innen zur Risikogruppe gehört und deshalb freigestellt werden muss. «Da müsste ich mir dann wohl einen anderen Assistenten suchen.»
Dem Verein BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben hat das AMS auf Nachfrage mitgeteilt, dass auch Assistent_innen im Privathaushalt in Covid-19-Kurzarbeit gehen können. Allerdings nur, wenn sie fest angestellt sind.

Eine bundesweite Lösung muss her

Um eine feste Anstellung für Assistent_innen zu ermöglichen und damit auch Assistenznehmer_innen finanziell zu entlasten, muss eine einheitliche bundesweite Regelung für Assistenz im Privatbereich her, so Obermeir. «Und bitte nicht die schlechteste», ergänzt sie. «Das Wichtigste ist, dass nicht jedes Bundesland für sich arbeitet und eigene Bestimmungen hat.»
Würde eine derartige Lösung bereits bestehen, wären Assistenznehmer_innen und Assistent_innen weniger hart von der Corona-Krise betroffen. So könnten Sonderregelungen, wie die vom FSW für Angehörige, in allen Bundesländern rasch umgesetzt werden, um Assistenznehmer_innen zu entlasten. Behindertenorganisationen und Aktivist_innen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung fordern seit Jahren sowohl eine bundesweite Regelung als auch einen Ausbau der Persönlichen Assistenz in allen Bereichen. In Wien ist ihnen zumindest ein kleiner Sieg gelungen: Die Pflegegeldergänzungsleistung wurde hier mit Jänner 2021 erstmalig seit ihrer Einführung von 16 Euro auf 18 Euro brutto erhöht.
Kritik gibt es aus den Reihen von Behindertenorganisationen und Aktivist_innen dennoch: Zwar wurde die PGE erhöht, gleichzeitig wurde jedoch eine von Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) für 2020 eingeführte Valorisierungs-Sonderlösung nicht weitergeführt. Vor Umsetzung der Sonderlösung wurde Bezieher_innen der Pflegegeldergänzungsleistung die jährliche Inflationsanpassung des Pflegegeldes von der PGE abgezogen. Dadurch wurden Bezieher_innen von PGE gegenüber anderen Pflegegeldbezieher_innen schlechter gestellt. Erst mit der Valorisierungs-Sonderlösung 2020 konnte diese Schwachstelle behoben werden. Vom Wiener Behindertensprecher der Grünen, Nikolaus Kunrath, wurde im Januar 2021 ein Antrag auf jährliche Valorisierung der Pflegegeldergänzungsleistung im Wiener Gemeinderat eingebracht. Der Antrag wird aktuell behandelt.
Die Erhöhung der Pflegegeldergänzungsleistung ist ein kleiner Silberstreifen am Horizont, zumindest für Assistenznehmer_innen und Assistent_innen in Wien. Aber solange österreichweit keine besseren Bedingungen geschaffen werden und der Bund mit einer Länderharmonisierung auf sich warten lässt, werden in Österreich weiterhin Assistent_innen wie Ira für zehn Euro in der Stunde Böden wischen und Klient_innen wie Gabriela Obermeir morgens stundenlang auf das Aufstehen warten, weil das nötige Geld für ausreichend Assistenzstunden fehlt.