Florian Flicker ist totArtistin

Die ungeheure Quantität seiner Projekte gefährdete nie deren Qualität

Nachruf wäre ein viel zu lautes Wort für den Abschied von einem so leisen Großen der Kunst. Man sollte das Adieu flüstern, das alle, die ihn kannten, dieser Tage vereint. Aber eben der, dem die Choreografie dieses Geflüsters zuzutrauen wäre, ist nicht mehr. Zahllose Weggefährt_innen haben den Verlust des liebenswerten Menschen und des überragenden Künstlers betont.

Foto: Manfred Werner

Ein prägender Wegbegleiter des Verstorbenen war Hubsi Kramar. Die Begegnung der beiden fand vor 30 Jahren in einem Versorgungszelt in der Hainburger Au statt. Legendäre Aubesetzung, legendäre Aufmüpfigkeit gegen die mächtige Kraftwerkslobby. Kramar engagiert den 19-jährigen Oberösterreicher als Regieassistenten, und die beiden verbindet eine dreijährige enge Zusammenarbeit. 1985 fahren sie gemeinsam nach Hamburg. Konzerte, Performances, Ausstellungen, Kauf einer Super-8-Kamera und erste Kurzfilme kennzeichnen das frühe Schaffen des Multitalents. In der Avantgardegruppe «Keine Einigung» bewährt er sich als Experimentalfilmer, Darsteller und Musiker. Kurzfilme – drei bis achteinhalb Minuten lang – zwingen zur absoluten Präzision. Eine Präzision, die ihn ein Künstlerleben lang unverkennbar macht und an der niemand vorbeisehen kann. Schon 1986 gibt es den Preis der Österreichischen Kleinbühnenjury. Pausenloses Schaffen auf höchstem Niveau in allem, was Bild, Ton und Wort auszudrücken vermögen, füllen die drei Jahrzehnte einer Karriere, die das Schicksal vor wenigen Tagen so jäh beendet hat.

Filmregie, Regie auf dem Theater, Schreiben von Drehbüchern, 2011 auch ein 70-Minuten-Hörspiel für den NDR, der es ungekürzt ausstrahlt … – die Produktivität des Künstlers kennt keine Grenzen, ohne je an Qualität zu verlieren, ohne dass er sich je persönlich hervotun würde. Er lässt seine Arbeit für sich sprechen. Er betritt die Bühne und bleibt dabei selbst im Hintergrund, bereitet sie für Andere, gründet Gruppen, ist als Lehrbeauftragter an der Wiener Filmakademie tätig, holt Schauspieler_innen in für sie maßgeschneiderte Rollen, ist entscheidender Motor im Neuerstehen des österreichischen Films. Die Liste der nationalen und internationalen Auszeichnungen, die er sich und seinen Mitarbeiter_innen durch sein Genie und seine unermüdliche Arbeit erwirkt hat, ist zu lang, um hier Platz zu finden. Die großen Bögen vom avantgardistischen Autodidakten zum akademischen Lehrer seines Metiers, vom dreiminütigen Kurzfilm zu großen internationalen Kinoerfolgen, von der Super-8-Kamera zur Film-Disco mit bis zu 70 Film-, Dia- und Video-Projektoren mögen als Ersatz für eine lange und doch unvollständig bleibende Aufzählung dienen.

Ich durfte Florian Flicker erst spät, nur extrem kurz, aber in seiner vollen Herzlichkeit kennen lernen. 2011 präsentierte er den preisgekrönten Film «Suzie Washington» (1998) auf großer Leinwand im «Kino unter Sternen» auf dem Wiener Karlsplatz. Katharina Rueprecht, die Roman- und justizkritische Sachbuchautorin und Mutter des Künstlers, hatte mich auf den Event aufmerksam gemacht. «Florian Flicker legt auf», verkündet das Plakat. Ein jugendlich Aussehender hantiert an den Boxen und bringt Musik zu Gehör. Das muss er sein. Dann läuft der Film an. Eine als Touristin getarnte ehemalige Sowjet-Bürgerin entkommt der österreichischen Abschiebungsmaschine. Kritik, die sich anzubahnen scheint, aber nicht laut stattfindet, Beziehungen, die sich anzubahnen scheinen, aber ausbleiben, spielen mit den Erwartungen der Zuseher und erzählen von Menschen.

Ich bin betäubt von der subtil narrativen Filmkunst, wage aber nicht, den Regisseur mit meinem Anliegen anzusprechen. Ich möchte eine Szene aus dem Drehbuch für eine unsubventionierte Kulturzeitschrift haben. Der verbale Kontakt ergibt sich erst kurz später per E-Mail. Schüchtern bitte ich um die Druckrechte für eine Szene. Ohne Umschweife bekomme ich das ganze Manuskript und darf mir eine Stelle aussuchen. Unentgeltlich. Einfach so.

Das Schicksal ist leider kein guter Regisseur. Mit geschmackloser, böser Ironie wollte es Florians Geburtstag zu seinem Todestag machen und hat das Datum nur um zwei Tage verfehlt. Gnadenlos zynisch stellt es der bösen Sonne in seinem bahnbrechenden Erfolg «Halbe Welt» (1993) seine Erkrankung an schwarzem Hautkrebs im Jänner 2014 gegenüber. Und der Schnitt ins Leben erfolgte mitten im Schaffen, mitten in der Arbeit an zwei Projekten, von denen eines die subtile Aufarbeitung jener Supermarkttragödie in Krems werden sollte, deren 14-jähriger Protagonist ebenfalls Florian geheißen hat. Sie soll es immer noch werden, aber wer wird sie vollenden können? Nein, Schicksal, das war eine denkbar schlechte Inszenierung und ein Filmschnitt gegen alle Regeln der Kunst. Du hättest bei dem in die Lehre gehen sollen, den du uns entrissen hast. Wir buhen dich aus, mit all unserer hilflosen Trauerwut. Und wir sind unfähig, den Vorhang fallen zu lassen, solange es Filme und unser Erinnern gibt.