Prekäre Kunst- und Kulturarbeit: eine Odyssee durchs AMS
Die Kunst, das AMS zu durchschauen. Selbstständige im Kunst- und Kulturbetrieb sind daran gewöhnt, mit einer schwankenden Konjunktur an Aufträgen umgehen zu müssen. Das AMS hat dafür nur undurchsichtige Regelungen. Daniela Koweindl hat sich den Fall von Natalie József* genauer angesehen und gibt Einblick in eine sehr umständliche Materie.
Illustration: Luise Müller
Natalie József ist Kuratorin und Kulturarbeiterin. Vor vier Jahren ist sie für eine Anstellung im Kunstbetrieb nach Wien gezogen. Natalie ist zurzeit arbeitslos und seit letztem Herbst gelegentlich selbstständig tätig. So bleibt sie mit ihrer künstlerischen Arbeit in der Szene sichtbar, und der Zuverdienst bessert die Notstandshilfe auf. Vorausgesetzt, sie überschreitet die Zuverdienstgrenze nicht.
Grundsätzlich gilt: Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit bis zur Jahresgeringfügigkeitsgrenze sind neben dem Bezug von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe möglich; derzeit sind das gut 5.100 Euro. Aber wie das AMS die selbständigen Einkünfte monatlich betrachtet und berechnet, hat Natalie niemand gesagt.
Kein Geld, keine Erklärung.
In den ersten beiden Monaten 2017 nimmt Natalie drei größere selbständige Aufträge an, erhält dafür 3.700 Euro, für März und April kommt noch ein kleines Honorar von 150 Euro dazu. Wie immer schickt Natalie nach Monatsende eine sogenannte «Bruttoerklärung» ans AMS – ein Formular, in dem sie ausfüllen muss, wie hoch ihre Umsätze waren und wie viel davon an Einkünften übrig blieb. Auf dieser Grundlage berechnet das AMS, ob es für das vergangene Monat Geld gibt oder nicht; über das Ergebnis informiert das AMS schriftlich. Im Februar erhält Natalie einen AMS-Bescheid, der ihr mitteilt, dass sie für Jänner keinen Anspruch hat. Soweit entspricht das ihren Erwartungen. Auch, dass das AMS für Februar kein Geld überweist, überrascht sie angesichts ihrer Aufträge nicht. Als das AMS allerdings keine weiteren Bescheide schickt, auf die Abgabe ihrer nächsten Bruttoerklärungen nicht mehr reagiert, für März wieder kein Geld kommt und mittlerweile auch die Krankenversicherung ausfällt, ist Natalie alarmiert. Es beginnt ein Spießrutenlauf durchs AMS. Anrufe gehen ins Leere. Ein AMS-Termin folgt dem nächsten. Parallel sucht sie in ihren Netzwerken nach Know-how und Rat.
Das Precarity Office ist ihre erste Anlaufstelle – eine transnationale Aktivist_innengruppe in Wien, vor allem von EU-Staatsbürger_innen, die in Österreich leben, sowie von Österreicher_innen, die sich für Fragen von Prekariat, Migration und Arbeit interessieren. Dort ist Natalie politisch aktiv und organisiert: «Einander zu beraten, Erfahrungen auszutauschen, war immer eine wichtige Praxis. Als ich in diese existenzgefährdende Situation geraten bin, habe ich das der Gruppe mitgeteilt, um zu sehen, welche Erfahrungen und welches Wissen da sind. So bin ich dann auch bei der IG Bildende Kunst gelandet, wo ich erstmals erfahren habe, dass es am AMS für selbstständige Tätigkeiten verschiedene Einstufungen und Berechnungsarten gibt.» Die da nämlich wären: durchgehende und vorübergehende Selbstständigkeit. Dazu kommen Berechnungsvariationen für befristete selbstständige Tätigkeiten unter und ab 28 Tagen. Welche höchst unterschiedlichen Auswirkungen diese AMS-Kategorien auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe haben können, erfahren Erwerbslose in der Regel nicht.
Warum es manchmal besser ist, nicht zu arbeiten.
Bei vorübergehenden selbstständigen Tätigkeiten müssen klar abgrenzbare Zeiträume für die jeweiligen Aufträge nachweisbar sein. Mit ausgefeilten Berechnungsformeln wird festgestellt, ob im betreffenden Monat Arbeitslosengeld in voller Höhe zusteht, gekürzt wird oder ganz wegfällt. Folgen für das Folgemonat gibt es nicht.
Bei der durchgehenden selbstständigen Tätigkeit hingegen ist «rollierende Berechnung» das Schlüsselwort, alles oder nichts ist die Devise. Das heißt, dass Monat für Monat ausgerechnet wird, ob die Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit seit Jahresbeginn dividiert durch die Anzahl der Monate seit Jahresbeginn unter der monatlichen Geringfügigkeitsgrenze liegen, derzeit 425,70 Euro. Liegen sie darüber, besteht kein Anspruch auf eine Geldleistung vom AMS, bis die Rechnung (vielleicht Monate später) wieder zu Gunsten der Erwerbslosen ausgeht. Verdient man – anders als Natalie József – denselben Betrag aber erst zu Ende des Jahres, sodass die Berechnungsgrundlage automatisch mehr Monate sind, wird kein AMS-Geld abgezogen. «Ich soll also von 425 Euro im Monat leben!», kritisiert Natalie József. Allerdings: Sie ist gar nicht durchgehend selbstständig tätig, alle ihre Aufträge waren zeitlich klar definiert, außerdem zu Jahresbeginn ungewöhnlich geballt. Aber danach hat nie jemand gefragt. Und ihr wiederum fehlte das Wissen zum AMS-System, um auf solch relevante Details hinzuweisen.
Laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann ausstehendes AMS-Geld im Nachhinein eingefordert werden; die zuständige AMS-Beraterin beantwortet diese Frage von Natalie József allerdings abschlägig. Selbst wenn sie damit im Unrecht ist, darf es als eigene Kunst gelten, die Nachweise zu bringen, dass man ein Jahr lang alle Bezugskriterien erfüllt hat. Und: Wird der AMS-Bezug gestrichen, fällt auch die Versicherung flach.
Wir sind nicht zuständig.
Mit all den zusammengetragenen Infos lässt Natalie schließlich beim AMS nicht mehr locker. Aggressives Verhalten von Mitarbeiter_innen und kafkaeske Zustände prallen ihr entgegen: «Als ich angefangen habe, konkrete Fragen zu stellen, kamen zwei Rückmeldungen: Erstmal wurde mir gesagt, ich hätte mich besser informieren sollen. Und dann, als ich Fragen gestellt habe, haben die einen sich nicht zuständig erklärt, die anderen haben gesagt, diese Informationen können sie mir nicht geben.» Mittlerweile kann Natalie ohnehin selber rekonstruieren, was Sache ist. Heißes Indiz: die Bruttoerklärung. Daraus, dass das AMS eine solche verlangt, lässt sich auf eine AMS-Einstufung als durchgehend selbstständig schließen. Gestecktes Ziel für Natalie: Korrektur dieser Fehleinschätzung; den Berechnungsmodus für vorübergehende Tätigkeiten erwirken; Notstandshilfe und Krankenversicherung zurückerkämpfen.
Mittlerweile nimmt sie jedes Mal eine Vertrauensperson mit zum AMS. Natalies Erfahrung ist, dass das die Mitarbeiter_innen zwar aufregt und irritiert, sie sich aber mitunter mehr Mühe geben. Auch wenn die Vertrauensperson nicht mitreden kann, sondern beispielsweise protokolliert, ermöglicht das hinterher einen Austausch, den Natalie sehr zu schätzen weiß: «Das kann für alle eine gute Unterstützung sein. Aber für mich war es eine besonders gute Unterstützung, dass jemand dabei war, die muttersprachlich ist.» (Bereitschaft zur Unbequemlichkeit sei für Vertrauenspersonen dennoch erforderlich, denn das AMS hat hierfür keine Sitzplätze vorgesehen: Freie Stühle werden ungebetenen Gäst_innen auch gerne mal verweigert.)
Sechs Termine und Wochen später kommt es schließlich zum Showdown. Wie das AMS ihre selbstständige Tätigkeit beurteilt hat, sei von Anfang an falsch gewesen, resümiert eine AMS-Mitarbeiterin. In der Woche darauf erhält Natalie das auch schriftlich: Fehlbeurteilung voll inhaltlich behoben, entsprach nicht den gesetzlichen Bestimmungen. Der Kampf hat sich ausgezahlt, die Notstandshilfe wird ihr nun rückwirkend zugesagt.
Die Absurdität hat System.
Natalie Józsefs Geschichte ist kein Einzelfall – nicht in einem AMS-System, das (noch immer) nicht auf prekäre Erwerbsrealitäten abgestimmt ist und im Widerspruch zum AMS-Kerngeschäft auch Arbeit verhindert. «Es ist ein Widerspruch, dass das AMS einerseits eine aktive Arbeitssuche verlangt und andererseits die selbstständige künstlerische Tätigkeit im Sinne der Anbahnung neuer Beschäftigung zur Existenzbedrohung werden kann», moniert Maria Anna Kollmann vom Dachverband der Filmschaffenden. Im Kulturrat setzt sie sich gemeinsam mit anderen Interessenvertretungen seit Jahren mit Problemen der sozialen Absicherung im Zusammenspiel mit erwerbslosen Phasen auseinander und für Verbesserungen ein. Aktuell steht die Veröffentlichung einer entsprechenden Studie aus juristischer und aus sozialwissenschaftlicher Perspektive bevor.
Auch für Natalie József geht die Sache weiter. Sie hat zuletzt gleich zwei neue Mitteilungen über ihren Leistungsanspruch erhalten – und zwar mit unterschiedlichen Inhalten. Die nächste Rückfrage ans AMS ist schon abgeschickt.
Infobroschüre «Selbstständig – Unselbstständig – Erwerbslos» zum Download:
kulturrat.at/agenda/ams/infoAMS