Stadt ohne Armut?tun & lassen

Nicht in der Statistik, aber trotzdem da

Die Westbahnhoffnung ist um soziales Gleichgewicht in Villach bemüht. Das Lebenshilfe-Projekt kümmert sich um Menschen, die es für das offizielle Villach nicht gibt. Chris Haderer (Text und Fotos) war auf Lokalaugenschein.

Armut gibt es in Villach nicht und auch keine Obdachlosigkeit. Es gibt beim AMS zwar auch so gut wie keine Jobs, aber das ist ein Detail, das in Villach oft aus den Augen gerät. Schwer haben es in einer Stadt ohne Armut nicht nur eine Handvoll Roma, die ständig unter dem Generalverdacht stehen, die Tourist_innen der Drau-Stadt zu vertreiben. Schwer haben es auch Asylwerber_innen und manche Einheimische. Obwohl es diese Menschen offiziell nicht gibt, sind sie nicht unsichtbar. Viele von ihnen lassen sich täglich am Villacher Westbahnhof anschauen, bei der Westbahnhoffnung Tabea Lebenshilfe. Zu Mittag ist dort Hochbetrieb: An Spitzentagen kommen bis zu 70 Menschen zum Essen in die Bahnhofshalle. Wer Hunger hat, kann kommen, ohne Ausweiskontrolle, Meldezettel oder Einkommensnachweis. Man bekommt einen Teller und ein Glas hingestellt und ist willkommen. Villach, oder Beljak, wie die Statutarstadt auf Slowenisch heißt, hat knapp 61.000 Einwohner_innen – was ein spannendes Verhältnis zu den über «14.000 kostenlosen Essen ergibt, die wir im vergangenen Jahr ausgegeben haben», sagt Marjan Kac, der die Westbahnhoffnung im Jahr 2000 zusammen mit einem Freund gegründet hat. Marjan stammt ursprünglich aus Slowenien und ist im Zuge des Balkankriegs «in Österreich hängen geblieben», erzählt er. Und: «Wir wollten der Stadt einfach etwas anbieten, für obdachlose Menschen, die Armutserfahrung oder auch sonstige Probleme haben.»

Essen & Kleidung.

Begonnen hat es mit kostenlosen Menüs; über die Jahre sind eine Kleiderausgabe, zwei Mal pro Woche eine Lebensmittelausgabe sowie kostenlose Sprachkurse für Asylwerber_innen und Migrant_innen, Malkurse für Kinder und ähnliches Angebot hinzugekommen. Tabea, der Träger, ist «ein kirchlicher Verein, aber im Endeffekt ist die Westbahnhoffnung überkonfessionell. Wir wollten das praktisch umsetzen, woran wir glauben, nämlich Menschen, denen es nicht gut geht, helfen, ohne irgendwelche Bedingungen.» Wir – das sind etwa 60 ehrenamtliche Mitarbeiter_innen. Im Jahr 2015 wurde die Westbahnhoffnung mit dem Kärntner Menschenrechtspreis ausgezeichnet, der mit 10.000 Euro dotiert war. «Unsere laufenden Kosten betragen 9000 Euro pro Monat», sagt Marjan Kac. Die Hilfe vom Staat ist minimal: 4000 Euro schießt die Stadt Villach zu, 2500 Euro das Land Kärnten – allerdings pro Jahr und nicht monatlich. «Es ist daher immer wieder schwer, das nötige Geld aufzutreiben.» Die Personalgehälter werden in der Regel durch ­private Spenden finanziert.

Nur noch Güterverkehr.

Nach mehreren Ortswechseln ist seit 2007 der Westbahnhof die Basis von Marjan Kac und seinem Team. «Ich habe immer schon gehofft, dass wir in den leerstehenden Westbahnhof kommen. Eine damalige Mitarbeiterin hat dann einfach an den Werner Faymann geschrieben, der Infrastrukturminister war, und der hat das schließlich ermöglicht.» Der Westbahnhof ist der einzige Jugendstilbahnhof Kärntens. Und genau genommen ist er kein Bahnhof mehr. Die unter Denkmalschutz stehende Bahnhofshalle, in der früher Fahrkarten verkauft wurden, und die Nebenräume wurden nach der Jahrtausendwende stillgelegt. Züge halten jetzt an neuen, hundert Meter weiter westlich angelegten Bahnsteigen. Viele Personenzüge sind es nicht, die hier halten. Für ständigen Hintergrundlärm sorgen allerdings die Güterzüge, die in kurzen Abständen die Verschub-Gleisanlage neben dem Gebäude befahren. Irgendwann gewöhnt man sich mehr oder weniger an das Geräusch. Es hat etwas von Aufbruch und Bewegung.

Schlafplatz am Bahnsteig.

Laut den Zahlen der Statistik Austria gab es im Jahr 2014 in ganz Kärnten insgesamt 19 «Wohnungslose», die auch als solche gemeldet waren. Zur Realität stehen diese Zahlen allerdings etwas im Widerspruch, und Marjan Kac sieht sehr wohl einen Bedarf an Notschlafstellen. «Zweieinhalb Jahre lang konnten Menschen in der Westbahnhoffnung auch schlafen», sagt er. «In strengen Wintern hatten wir bis zu 35 Personen hier. Das ist uns dann allerdings von offizieller Seite verboten worden. Man hat uns damit gedroht, den Mietvertrag zu kündigen. Ein richtiger Tiefschlag für mich, denn bis dahin haben sämtliche Einrichtungen von Villach auf uns zurückgegriffen: Polizei, Arbeiterkammer, Krankenhaus, Jugendamt haben immer wieder angerufen, ob sie Leute vorbeischicken können. Aber für das offizielle Villach gibt es diese Leute eben nicht.» Wer kein Quartier hat, muss die Nacht jetzt am Bahnsteig verbringen, das ist gerade noch erlaubt. Letzten Sommer waren es etwa 15 Obdachlosenmeldungen pro Monat, die von der Westbahnhoffnung gemacht wurden, damit die Betroffenen nicht aus dem Sozialsystem fallen – wenn sie schon nicht gesehen werden. «Ich stellte mir schon als Kind die Frage, warum Obdachlosigkeit in Villach kein Thema ist», wundert sich auch Georg Reitz, der sich in seinem Film «Vergessen ist nicht vergangen» (2015) mit dem Thema auseinandersetzt: «Alles ist so idyllisch. Es gibt aber in Villach inoffiziell ca. 60 Obdachlose.»

Soziale Konkurrenz.

«Die Politik sieht uns leider als Parallelstruktur zu anderen Einrichtungen, was wir aber überhaupt nicht sind», sagt Marjan. Dass «es in Villach keine Obdachlosen mehr gäbe, sei in erster Linie der Arge Sozial und ihrem hervorragenden Betreuungsprogramm zu verdanken», zitiert das Online-Portal fenstergucker.com den 2015 abgetretenen Villacher Bürgermeister Helmut Manzenreiter (SPÖ). Das Lob ist von der Wirklichkeit eingeholt worden: Mittlerweile gibt es in der Stadt ohne Armut auch eine Notschlafstelle für Jugendliche. Und bei der 1988 gegründeten Arge Sozial ist die Anzahl der Klient_innen im Jahr 2015 von 550 auf mehr als 700 gestiegen. «Meiner Ansicht nach gibt es in Villach drei Gruppen von Menschen, für die die Stadt etwas tun sollte», meint Marjan. «Da sind einmal die kurzzeitig Obdachlosen, die beispielsweise ohne Wohnung dastehen, weil sie von der Frau hinausgeworfen wurden. Die kann man auffangen, und die haben auch meistens nach einem Monat wieder eine Wohnung.» Dann gebe es Menschen mit Suchtproblemen, für die man nach dem Vorbild des VinziDorfes in Graz etwas tun könne. Dort ist Alkoholkonsum erlaubt. «Dadurch bleiben die Leute dann auch dort», sagt Marjan. In der Westbahnhoffnung ist Alkohol allerdings nicht erlaubt. «Extrem schwer haben es in Villach auch einige Roma aus der Slowakei, die regelmäßig hier betteln und die auch ein Recht auf einen warmen Schlafplatz im Winter haben. Denn es ist sicher nicht so, dass die Stadt von Heerscharen an Bettlern und Obdachlosen bedroht wird. Das sind einfach Menschen, die Hilfe brauchen.»

Essen am Bahnhof.

Rechts von mir löffelt ein Mann mit Bart, so um die 30, seine Suppe. Bevor der Boden des Tellers zu sehen ist, wird er böse, weil sein Nachbar etwas über Krebs gesagt hat, offenbar etwas Falsches, und er droht mit Schlägen. Die Entschuldigung seines Kollegen nimmt er nicht zur Kenntnis und schimpft weiter. Zum Rauchen geht er alleine auf den ehemaligen Bahnsteig hinaus. Sein Abgang hat etwas Dramatisches, weil draußen wieder ein Güterzug vorbeidonnert und es klingt, als würde gerade ein Gewitter ausbrechen. Armut ist kein Verbündeter, und Armut macht Kranke nicht gesund.

Schaut man sich an, was am Villacher Westbahnhof getan und geleistet wird, und warum es getan wird, könnten einem die Tränen in die Augen steigen. Denn Hoffnung wächst nicht dort, wo Hunger und Kälte sind. «Die stellvertretende Landeshauptfrau von Kärnten hat uns gesagt, dass sich das soziale Gleichgewicht in Villach verändern würde, gäbe es die Westbahnhoffnung nicht», erzählt Marjan Kac. Eine liebenswerte Aussage, aber ohne finanzielle Relevanz für das praktisch immer in der Nähe des Abgrunds lagernde Projekt. Was wäre, wenn die Westbahnhoffnung nicht da wäre? «Wo die Menschen dann hingehen würden, das weiß ich nicht», sagt Marjan. «Aber es wäre wahrscheinlich nicht zu ihrem Vorteil.»

 

www.westbahnhoffnung.at

Die Reportage ­«Letzte ­Hoffnung Westbahnhoffnung» auf Radio Augustin ist ­nachzuhören unter: ­

cba.fro.at/339493

Videoreportage:

www.youtube.com/watch?v=7KkyGwMHtmQ