Zur Geschichte eines frühen internationalen Sozialprojektstun & lassen

Das Ottakringer Settlement

Else, ich habe dir aus England etwas mitgebracht, das musst du machen. So erinnerte sich Else Federn Mitte der 30er Jahre, anlässlich des Todes ihrer Freundin Marie Lang (1858-1934), an ihre erste Bekanntschaft mit der Settlement-Idee im Jahr 1898. Marie Lang hatte als Vertreterin des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins, der frühen Wiener Feministinnen, an einem Kongress in London teilgenommen und dort die Einrichtung der Settlements kennen gelernt.Settlement heißt Niederlassung und in diesem Fall handelte es sich um die Schaffung von dem, was man heute vielleicht nicht ganz zutreffend Nachbarschaftszentren nennen würde. Solche Zentren sollten in den Armenvierteln geschaffen werden und ein Ort der Begegnung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen darstellen. Als Mütter der internationalen Settlement-Bewegung gelten die Toynbee-Hall und das Oxford House in London. Diese beiden Häuser wurden in den 1880er-Jahren im Londoner East End errichtet und bestehen noch heute (anlässlich der 120 Jahre des Bestehens der Toynbee-Hall gab es heuer im Sommer eine Konferenz zur Geschichte der internationalen Settlementbewegung, an der ich teilgenommen habe).

Von London aus verbreiteten sich die Settlements in die USA, in verschiedene europäische Länder und sogar bis Japan. Um 1900 gab es hunderte solcher Settlements weltweit. Eines der bekanntesten ist das Hull House in Chikago, das von der bekannten amerikanischen Feministin und Friedensnobelpreisträgerin Jane Addams gegründet wurde. Die zentrale Idee des Settlement war nicht Wohltätigkeit im Sinn von Almosengabe, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. Die etwas patronisierende Geste gegenüber Armen, mit denen diesen die Kultur, bzw. das, was Mittelschichtangehörige darunter verstanden, nahe gebracht werden sollte blieb nicht unwidersprochen. So kommentierte etwa die Anarchistin Emma Goldmann die kulturelle Mission der Settlements ironisch mit der Feststellung Settlement work was teaching the poor to eat with a fork. (Im Settlement lernen die Leute mit Messer und Gabel essen).

Auch wenn sich die Settlements als unpolitische Einrichtung in dem Sinn verstanden, dass sie keiner Partei angehörten, bildeten Diskussionen in den Settlements und die Aktivitäten und Kontakte seiner BewohnerInnen und BesucherInnen oft den Anstoß für Verbesserungen auf lokaler Ebene oder für Gesetzesänderungen. Von den damals üblichen Wohlfahrtseinrichtungen unterschied sich die Idee des Settlement dadurch, dass die räumliche Distanz zwischen Armen und Reichen aufgehoben werden sollte und die wohlhabenden GründerInnen des Settlement in den Armenvierteln auch wohnen sollten.

Im Haus des Bierbrauers

Gedacht wurde dabei ursprünglich an die (männlichen) Studenten der englischen Eliteuniversitäten Oxford und Cambridge, doch fühlten sich von dem Konzept auch viele Frauen aus der Mittelschicht angesprochen. Zu ihnen gehörten in Wien einige der bürgerlichen Frauenbewegung nahe stehenden Frauen wie die bereits Genannten, Else Federn und ihre Mutter Ernestine, Marie Lang und andere. Else Federn, damals eine junge Frau von 26 Jahren, verbrachte im Sommer 1900 einige Zeit im ersten Londoner Frauen Settlement, dem University Women Settlement, und schrieb nach ihrer Rückkehr einen begeisterten Artikel darüber in den Dokumenten der Frauen. Einige Monate später, im Februar 1901 wurde in Wien von 14 Frauen und 2 Männern der Verein Settlement gegründet, der ursprünglich die Gründung mehrer Settlements in Wien vorsah. Wenige Wochen zuvor, im Dezember 1900, war in der Brigittenau die Jüdische Toynbee Hall gegründet worden. Leon Kellner und York-Steiner waren die Begründer dieser Einrichtung, die wenige Jahre später von der Bnai-Brith-Loge Eintracht übernommen wurde.

Das Ottakringer Settlement befand sich zuerst in einem kleinen einstöckigen Haus in der Kaisergasse, das vom Eigentümer der berühmten Ottakringer Bierbrauerei Moritz Kuffner zur Verfügung gestellt wurde. Die Settlementarbeit begann mit der Gründung von Kindergruppen und der Organisation von geselligen Abenden für die ArbeiterInnen und ihre Familien. Nach eineinhalb Jahren gab es bereits Spielgruppen für kleinere und größere Kinder, eine Ausspeisung, wöchentliche Mütter- und Mädchenabende sowie Burschen- und Männertreffen. Über tausend TeilnehmerInnen besuchten damals bereits das Settlement, wie Else Federn schreibt.

Das Settlement kämpfte mit ständigen Geldsorgen und erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges konnte es in einen Häuserblock mit drei dreistöckigen Häusern ziehen, wo es mit der Unterbrechung von 1938 bis 1945 bis zum Jahr 2003 seinen Sitz hatte. Der Häuserblock befand sich an der Ecke Effingergasse/Lienfeldergasse in Ottakring, einen Katzensprung von der heutigen österreichischen Caritaszentrale entfernt.

Obdachlosenasyl für junge Mädchen

In der Zwischenkriegszeit kamen als weiterer Schwerpunkt die Kinder- und Jugendfürsorge dazu. Eine der Mitarteiterinnen des Ottakringer Settlement, Grete Löhr, war maßgeblich an der Errichtung der Jugendgerichtshilfe beteiligt. Diese arbeitete mit dem neu entstandenen Jugendgericht zusammen, das bei straffällig gewordenen Jugendlichen den Schwerpunkt mehr auf Hilfe denn auf Strafe legte und als international anerkannte vorbildhafte Einrichtung des Roten Wien galt und von der schwarz-blauen Regierung kürzlich abgeschafft wurde. Else Federn hatte sich während des Ersten Weltkrieges dafür engagiert, dass die Vormundschaft für die Kinder auch von Frauen, die bis dahin davon ausgeschlossen waren, übernommen werden konnte. Neben der Zusammenarbeit mit diversen Fürsorgeeinrichtungen gab es auch Kontakte mit Schulen im Zusammenhang mit schwierigen oder häufig fehlenden SchülerInnen.

Ebenfalls neu eingerichtet wurde die so genannte Mütterfreizeit, der bis dahin in Österreich unbekannte Mütterurlaub. Dabei wurde Müttern unter geringer finanzieller Eigenbeteiligung eine einwöchige Erholung auf dem Land ermöglicht. Neben der Schwangerenberatung wurden seit den Zwanzigerjahren auch ältere Menschen im Settlement betreut, eine Trinkerberatung gab es ebenfalls. Zum dreißigjährigen Jubiläum wurde ein von einer anonymen Spenderin Maria Lederer finanziertes Jugendheim für männliche Jugendliche in der Krottenbachernstraße im 19. Bezirk eröffnet. Im gleichen Jahr entstand über die Initiative von Mädchenmittelschülerinnen im Ottakringer Settlement ein Obdachlosenasyl für junge Mädchen. Obdachlose Mädchen zwischen 14 und 21 Jahren fanden dort für maximal acht Nächte einen Schlafplatz.

Die zunehmende Arbeitslosigkeit war immer wieder Thema im Settlement. Die Verarmung betraf einen immer größer werdenden Teil der Gesellschaft. Auch die finanziellen Schwierigkeiten des Settlement wurden in den Dreißigerjahren immer größer. Gegründet zu einem Zeitpunkt, an dem es in Wien ein noch kaum entwickeltes öffentliches Sozialwesen gab, war das Settlement auf Spenden wohlhabender Leute angewiesen. In den Jahresberichten lassen sich die Nahmen vieler jüdischer FödererInnen und StifterInnen ausmachen, wie z. B. Baronin Charlotte Königswarter oder die Familie Rothschild. Auch unter den MitarbeiterInnen des Settlement befanden sich viele jüdische Frauen aus assimlierten Familien, wie die bereits genannte Gründerin und langjährige Arbeitsleiterin Else Federn.

Bis in die Dreißigerjahre war das Ottakringer Settlement eng mit der internationalen Settlement-Bewegung verbunden. Es gab gegenseitige Besuche und Treffen auf den internationalen Settlement-Konferenzen, aber auch FürsorgerinnenschülerInnen, LehrerInnen und SozialarbeiterInnen aus dem In- und Ausland besuchten das Settlement in Wien. Die politische Entwicklung ging an den Settlements selbstverständlich nicht spurlos vorüber. Auf der 4. internationalen Settlementkonferenz im Sommer 1932 wurden Fragen erörtert wie Inwiefern bedeutet die wirtschaftliche Notlage eine Veränderung der Aufgaben des Settlement? oder: Inwiefern bedeutet die politische Radikalsierung der großstädtischen Bevölkerung eine Veränderung der Settlementaufgaben?. Welchen tief greifenden Einfluss die politische Entwicklung der kommenden Jahre auf das Ottakringer Settlement haben sollte, wird Thema eines Folgeartikels sein.

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