485 - 07/2019

Reale und imaginäre Türme
Türme lösen in der gegenwärtigen Baupraxis folgendes Paradoxon aus: Niemand mag sie und jede_r will einen haben. Sobald Pläne zur Errichtung von Hochhäusern ruchbar werden, regt sich Widerstand dagegen. Andererseits scheinen sämtliche Investoren, Bauherr_innen und Architekturbüros von der Errichtung so eines «begehbaren vertikal ausgerichteten Bauwerks, das sich über seine Höhe definiert» (Wikipedia), zu träumen. Selbstverständlich ist die Debatte und Gemengelage um in die Höhe schießende Bauten komplizierter und die Ansichten von Befürworter_innen und Gegner_innen derselben fallen differenzierter aus. Ästhetik und Zweckmäßigkeit sind bei Weitem nicht die einzigen Kriterien, die einen Turm als «eyecatcher» oder «eyesore» klassifizieren.
Im AUGUSTIN kommen alle Arten von Türmen vor. Jene, die seit Jahrzehnten das Auge beleidigen und Aussichten verschandeln, und jene, die in der Realität hoffentlich nie unsere Sichtachsen kreuzen werden. In Wort und Bild ging es um Kirchtürme, Wassertürme, Sendetürme, Burgfriede, Schachtürme, vertikale Gewächshäuser, stillgelegte Fabriksschlote und Aussichtswarten. Aber auch virtuelle, metaphorische und sagenhafte Hochbauten: etwa der Turm zu Babel, gezeichnet von Magdalena Steiner (Ausgabe 461), und auch der Elfenbeinturm, eine zu Unrecht verunglimpfte Immobilie, als Werkstatt für Utopien, Fantasien und Unmöglichkeiten und Heimstatt von Spinner_innen und Träumenden.
Auch in der aktuellen AUGUSTIN-Zeitung sind tatsächlich existierende und imaginäre Türme zu finden. Bei der Reichsbrücke entsteht zurzeit Europas dritthöchster Wohnturm Danube Flats. Das «High-End-Wohnprojekt» der Soravia-Gruppe wirbt u. a. mit «seiner nachhaltigen Bauweise». Ob es wohl diese Nachhaltigkeit war, die den grünen Politiker Chorherr beeindruckte? Dass Soravia zu den Großspendern für Christoph Chorherrs Hilfsverein gehört, ist doch sicher Zufall? In Immo aktuell (S. 11) setzt sich Richard Weihs mit den Verbindungen des grünen Ex-Stadtrats zur Bauwirtschaft auseinander. Genauso markant am Land wie die Skyscraper in der Stadtlandschaft sind die riesigen Silos der Raiffeisen-Genossenschaft. Anton Tantner berichtet Wissenswertes über die Getreidespeicher und hat auch das Silomuseum in Waidhofen an der Thaya besucht (S. 17). Im Dichter Innenteil ist diesmal wörtlich kein einziger Turm vorhanden. Aber es geht u. a. ums Vom-Sockel-Stoßen jener, die sich aufgrund ihres vererbten Status dort oben befinden und sich auf dem Rücken vieler «Habenichtse» oben halten. Und so fällt in Jella Josts neuer Folge ihrer Reihe Cherchez la Femme
(S. 30) schon einmal einer aus dem Privilegien-Himmel …