Alle Jahre wieder wird der Maßnahmenvollzug öffentlich verhandelt. Und zwar immer dann, wenn die Rufe nach Verschärfung und Ausweitung laut werden. Trotz grüner Regierungsbeteiligung steht die nötige Reform aus. Die Abschaffung sowieso.
Text: Christof Mackinger
Illustration: Asuka Grün
«Es ist so ziemlich das Schlimmste, was man sich im Gefängnis vorstellen kann», beschreibt Ulrich M.* seine ersten Eindrücke. Auch Christoph O.* verbrachte Jahre im Maßnahmenvollzug: «Man liest über sich selber, man sei ‹abartig›», beschreibt der Mann seine Eindrücke von der Institution. «Da denkst du dir, du bist der komplette Unmensch. Was glaubst du, was das mit deinem Selbstwert macht?»
Christoph O. und Ulrich M. wurde jeweils nach einer Straftat eine psychiatrische Erkrankung attestiert – in der Diktion des Strafgesetzbuches eine «geistige oder seelische Abartigkeit von höherem Grad». In beiden Fällen hat das zur Einweisung in eine Anstalt für «geistig abnorme Straftäter» geführt – den Maßnahmenvollzug. Da sie zum Zeitpunkt ihrer Verurteilung als gefährlich eingestuft wurden, hat man sie «untergebracht», wie das im Juristendeutsch heißt. «Weggesperrt», würden Nicht-Jurist_innen sagen. Weggesperrt wurden sie nicht, um ihre Strafe abzusitzen, wie das im Gefängnis üblich ist, sondern um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen – mit unbekanntem Ende.
Vorbeugend weggesperrt. Seit 20 Jahren steigt die Zahl der in Vorbeugungsmaßnahme «Untergebrachten» in ganz Österreich kontinuierlich an. Ob die Welt dadurch sicherer wird, ist schwer zu beurteilen. Viel sicherer ist, dass die aktuell 1.349 Untergebrachten in den diversen Anstalten für «geistig abnorme Rechtsbrecher» psychisch krank sind und daher eine Behandlung brauchen. «Wegsperren» hingegen kann psychiatrische Erkrankung verschlimmern. Geändert hat sich in den vielen Jahren trotz vieler Kritik aber trotzdem kaum etwas, zumindest nicht zum Guten.
Während die Grünen vor ihrer Bundesregierungsbeteiligung dem Maßnahmenvollzug noch «massive Missstände und skandalöse Bedingungen» attestierten, bezieht sich ihr gegenwärtiger Regierungspartner ÖVP heute positiv darauf. Zukünftig sollen, geht es nach Sebastian Kurz, auch islamistische Extremist_innen im Maßnahmenvollzug weggesperrt werden.
Unbegrenzte Aussichten.
Nicht nur die Sprache transportiert die überholte Denke der siebziger Jahre: Wird dem Täter oder der Täterin nach einer Straftat eine «geistige oder seelische Abartigkeit von höherem Grad» diagnostiziert, so muss er oder sie keine Haftstrafe antreten. Stattdessen kann mit dem Urteil die Einweisung in eine «Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher» ausgesprochen werden. Die ist im Gegensatz zur Haftstrafe aber zeitlich unbegrenzt. Jährlich wird begutachtet, ob der jeweilige «Untergebrachte», wie die psychisch kranken Insass_innen genannt werden, gefährlich ist. Das Urteil lautet also: «potentiell lebenslänglich». Tatsächlich sitzen Untergebrachte im Schnitt 2,7 (bei Zurechnungsunfähigkeit) und 4,5 Jahre (bei Zurechnungsfähigkeit) ein.
So auch Christoph O. Als 17-Jähriger landete er nach schwieriger Kindheit «öfters mal auf der Psychiatrie», wie er erzählt. Später wird er wegen Gefährlicher Drohung verurteilt. Mit 21 folgt die zweite Verurteilung wegen Gefährlicher Drohung gegen eine Bekannte. Mit seiner gerichtlichen Verurteilung folgt die Einweisung und die Diagnose: bipolare Störung. Dass er psychisch krank war, sei ihm bewusst gewesen, so O. «Aber da bist du neben Menschen, die wen zerstückelt haben», erzählt der heute 30-Jährige lachend. «Da kommst du dir schon ein bisschen blöd vor.»
Dass er psychisch krank sei, sei auch ihm diagnostiziert worden, sagt Ulrich M. «Borderline, Schizophrenie, bis hin zum Autismus.» Er hatte einen «grundsoliden Beruf» gelernt. 2015 sei der Anfang-30-Jährige wegen Beharrlicher Verfolgung zu zwölf Monaten verurteilt worden, bedingt. Er hätte also nicht ins Gefängnis müssen, wäre nicht die Maßnahme angeordnet worden. Wegen ihr musste M. doch rein, mit ungewissem Ende.
Eine Einweisung in die «Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher» bedeutet in Österreich effektiv: Gefängnis. Zwar schreibt das Gesetz eine räumliche Trennung zu den Rechtsbrecher_innen ohne psychiatrische Diagnose vor, vollzogen wurde die Trennung aber nie konsequent. Sei es in der Grazer Karlau, in der Justizanstalt Stein, in der Wiener Josefstadt oder im Jugendgefängnis Gerasdorf, die psychisch kranken Straffälligen sind in den gewöhnlichen Gefängnissen untergebracht.
Bereits zweimal wurde Österreich im Zusammenhang mit seinem System des Maßnahmenvollzugs vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Am System geändert hat sich seither aber kaum etwas.
Erfahrungen der Ohnmacht.
Die Menschenrechtsexpertin Marianne Schulze stellt dem Maßnahmenvollzug ein durchwegs schlechtes Zeugnis aus. Sie war Teil einer 2014 vom Justizminister Wolfgang Brandstetter eingesetzten Expert_innenkommission zur Evaluierung des Maßnahmenvollzugs. Dafür sprach Schulze unter anderem mit 25 Untergebrachten. «Das therapeutische Setting ist nicht im Ansatz gewährleistet», sagt die Juristin im Gespräch mit dem AUGUSTIN.
Das belegen auch aktuelle Zahlen aus dem Justizministerium. So sitzen in der Justizanstalt Graz-Karlau 80 psychisch Erkrankte und rund 450 weitere Inhaftierte ein, denen lediglich vier Vollzeitstellen zur psychologischen und psychiatrischen Betreuung gegenüberstehen. Engmaschige Betreuung sieht anders aus.
Eine andere Problematik benennen die ehemals Untergebrachten: Den Psycholog_innen dürfe man «nicht seine reale Persönlichkeit offenbaren», so Ulrich M.s Erfahrung. Jeder Widerspruch habe zur Folge, dass sich die Freilassung noch länger hinauszögere. Solch eine Ohnmacht überlebe man «nur mit Zynismus und Hass», erzählt der Mann. Die Jahre bis zu seiner Freilassung Anfang 2020 sei er permanent unter Anspannung gestanden. Der Medikamenteneinsatz im Maßnahmenvollzug sei enorm, «Antipsychotika werden ausgegeben, als wären es Smarties.»
Ähnliches berichtet Christoph O.: «Du musst dich unterwerfen, sonst kommt du da nie raus.» Dennoch blickt er auch positiv zurück auf seine Zeit in der Justizanstalt Asten in Oberösterreich. «Ich bin auch dankbar für den Aufenthalt.» Nur so konnte O. mehr über seine Krankheit lernen, sagt er.
Gefürchtete Schlechtachten.
Gefürchtet sind auch die jährlichen Begutachtungen. Sie tragen maßgeblich zur Entscheidung bei, wer bleibt und wer eine Chance auf Freiheit bekommt. «Das Gutachten entscheidet über dein Leben», erzählt O. Der Gutachter habe ihn lediglich zehn Minuten angehört und dann die alles entscheidende Stellungnahme verfasst. Auch die Expert_innenkommission, der Marianne Schulze angehörte, stellte 2015 fest, dass Anhörungen oft nur wenige Minuten dauerten und positiven Entwicklungen in den Gutachten kaum Raum eingeräumt werde. Ein Untergebrachter brachte es auf den Punkt: «Ich hätt’ gern ein Gutachten, das kein Schlechtachten ist.»
Ein Problem: Der Druck auf Gutachter_innen und Richter_innen stieg in den letzten Jahren mit einer öffentlichen Diskussion um ihre Verantwortung an. Nachdem im Mai 2016 ein psychisch kranker Mann am Wiener Brunnenmarkt eine Frau totschlug, obwohl er den Behörden als gewalttätig und paranoid schizophren bekannt gewesen war, wurden Rufe nach Präventionshaft laut. Gutachter_innen neigen dazu, Untergebrachte lieber ein Jahr länger im Maßnahmenvollzug zu halten, als «Wackelkandidat_innen» freizulassen. Man ist versucht, sich davor zu bewahren, selbst als Schuldige_r im Boulevard zerrissen zu werden, sollte «mal wieder was passieren».
Agnes Sirkka Prammer, Justizsprecherin der Grünen, freut sich im Gespräch mit dem AUGUSTIN darüber, dass es «im Bereich der psychiatrischen Sachverständigen ab 2021 eine Erhöhung des Budgets geben» werde. Sie habe Hoffnung auf eine sehr schnelle Verbesserung in dem Bereich.
Grün untergebracht.
Und diese Hoffnung wird sie brauchen. Denn auch mit grüner Regierungsbeteiligung sind die Menschenrechte bis heute nicht in die Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher vorgedrungen. Zwar hielt die türkis-grüne Regierung ihr Versprechen, das Justizbudget aufstocken zu lassen; 23 Millionen Euro werden in eine bessere Entlohnung für Gutachter_innen, den Ausbau der Vorzeigeanstalt Asten und mehr Personal investiert. Man wolle in Asten zentralisieren und damit das Betreuungsangebot verbessern, so Agnes Sirkka Prammer. An den Grundsätzen der Problematik wird aber vorerst nicht gerüttelt, obwohl die Zuständigkeit im Justizministerium, und damit in grüner Hand liegt. Dem Trend, dass immer mehr Menschen mit kurzen Haftstrafen eingewiesen werden, steht nichts entgegen. Gefährliche Drohung, Nötigung, Beharrliche Verfolgung sind mittlerweile klassische Delikte, die zu einer Einweisung führen. Christoph O. und Ulrich M. sind demzufolge Musterbeispiele. Auch zeigt eine Studie des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie, dass die Wahrscheinlichkeit zur Einweisung in den Maßnahmenvollzug «massiv ansteigt, wenn sich die Drohung oder Nötigung gegen einen Polizisten oder gegen andere Uniformierte, aber auch gegen Ärzte und öffentliche Personen, wie Bürgermeister, richtet». Dieser Trend klingt nicht nur sehr österreichisch, sondern ist auch unter grüner Regierungsbeteiligung ungebrochen.
Einer Demokratie nicht würdig.
Bundeskanzler Sebastian Kurz verkündete nach dem terroristischen Attentat in Wien am 2. November: «Es braucht die Unterbringung terroristischer Straftäter im Maßnahmenvollzug, auch wenn sie ihre Haftstrafe verbüßt haben.» Man wolle sie «lebenslang wegsperren». Leicht verhaltenen Widerspruch gibt es dazu von der Grünen Justizsprecherin Agnes Sirkka Prammer: «Ich kann keinen 20-Jährigen für den Rest seines Lebens einsperren, das geht nicht.» Stattdessen suche man in der Regierungskoalition «eine Maßnahme ähnlich der für Rückfallstäter». Ziel müsse sein, dass mit den Menschen weiter an ihrer Deradikalisierung gearbeitet wird.
Tatsächlich existiert im Strafgesetzbuch der Paragraph 23, ein Passus, demzufolge «gefährliche Rückfallstäter» im Maßnahmenvollzug untergebracht werden können. Aktuell handelt es sich dabei um totes Recht, einen seit Jahren ungenutzten Paragraphen. Die türkis-grüne Regierung will ihm aber offenbar neues Leben einhauchen.
Marianne Schulze, die mehrere Anstalten für «geistig abnorme Rechtsbrecher» besucht hat, ist sich sicher: «Der Maßnahmenvollzug ist einer wirklichen Demokratie nicht würdig.» Für «komplett daneben» halte sie den Vorschlag, islamistische Terroristen in die Nähe einer psychiatrischen Problematik zu stellen. Man tue den tatsächlich psychisch Kranken nichts Gutes damit, das Stigma auszubauen, eine Erkrankung der Psyche bringe zwangsläufig eine Gefährlichkeit mit sich.
Doch wie umgehen mit wirklich psychisch Kranken, die sich strafbar gemacht haben? «Der Vorbeugungsmaßnahme ist nicht unbedingt ein Justizthema», so Schulze, das therapeutische Wohl betreffe auch die Gesundheit und Soziales. Insofern könnten auch die Sozialabteilungen der Länder hinzugezogen werden. Und: 80 Prozent der Untergebrachten sollen raus aus dem Vollzug. «Die Vorgabe internationaler Verpflichtungen sind gemeindenahe therapeutische Angebote», so die Juristin. Die wenigen Übrigen, «die tatsächlich ein Verhalten haben, das hochproblematisch ist», bräuchten ein sehr spezifisches, maßgeschneidertes Angebot.
Ulrich M. und Christoph O. konnten beide den Maßnahmenvollzug hinter sich lassen. O. hat eine eigene Wohnung bezogen und lebt «quasi nebenwirkungsfrei» mit Medikamenten, wie er sagt. Ulrich M. ist im betreuten Wohnen und hat vier weitere Jahre mit regelmäßigen Therapiesitzungen vor sich. Eigentlich genügend Zeit für die Regierung, den Maßnahmenvollzug umzukrempeln. Stattdessen plant Türkis-Grün die Ausweitung dessen, was Agnes Sirkka Prammers Vorgänger 2017 noch «massive Missstände und skandalöse Bedingungen» nannte.
* Namen v. d. Red. geändert
Maßnahmenvollzug in Zahlen
Die Zahl der Menschen im Maßnahmenvollzug steigt seit dem Jahr 2000 kontinuierlich an. Damals lag sie bei 572, heute bei 1.349 Menschen österreichweit. Damit sitzt jede_r sechste Inhaftierte im Maßnahmenvollzug. Etwa zehn Prozent davon sind Frauen, zum Stichtag 1. November 2020 befanden sich fünf Jugendliche im Maßnahmenvollzug. 60 Menschen befinden sich in Drogenentzugstherapien, der Rest hat eine psychiatrische Diagnose und gilt als zurechnungsunfähig (beinahe 800) oder zurechnungsfähig (knapp 500). Die häufigsten Delikte der zurechnungsunfähigen Straftäter_innen sind Sexualstraftaten, Delikte «gegen Leib und Leben» und strafbare Handlungen gegen die Freiheit; bei den zurechnungsfähigen sind es meist gefährliche Drohung, Nötigung und schwere Körperverletzung. Erstere bleiben im Schnitt 2,7 Jahre in der Maßnahme, während letztere durchschnittlich 4,5 Jahre in der Maßnahme angehalten werden und danach ihre Haftstrafe antreten. Die meisten der «Untergebrachten» befinden sich in den Justizanstalten Asten (OÖ), Mittersteig (W), Göllersdorf und Krems-Stein (NÖ). Ein Zellenplatz kostet dem Justizministerium zufolge pro Tag etwa 250 Euro.
Kleine Entstehungsgeschichte des Maßnahmenvollzugs
Die ersten «Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher» wurden 1975 als Provisorium in Göllersdorf (NÖ) und Mittersteig (W) geschaffen, wurden aber zur Dauerlösung. Hinter der veralteten Bezeichnung verbirgt sich die Idee eines therapeutisches Angebots für Menschen, die aufgrund einer psychiatrischen Krankheit («geistig oder seelisch abartig») straffällig geworden sind, und bei denen die Gefahr einer erneuten Straffälligkeit bestehe.
Wie auch schon im Jahr 1993 wurde nach einer aufsehenerregenden Verfehlung der Behörde 2014 eine Gruppe von Expert_innen beauftragt, den Maßnahmenvollzug zu befunden und Reformempfehlungen auszuarbeiten. Die erörterten Problemfelder waren umfassend: Die Unterbringung psychisch Kranker in normalen Gefängnissen, das fehlende Budget für Therapien und die Tatsache, dass viele Menschen mit relativ «kleinen Delikten» im Maßnahmenvollzug landeten. Die Reformvorschläge fielen ebenso umfangreich aus, wurden aber bis heute nicht umgesetzt.
Infos zum Maßnahmenvollzug
Die Selbst- und Interessensvertretung zum Maßnahmenvollzug (SiM) wurde 2016 von ehemaligen Untergebrachten und anderen Engagierten gegründet.
sim.or.at
Die Plattform Maßnahmenvollzug ist ein Zusammenschluss von 13 Organisationen (u. a. Bizeps, der Verein LOK oder das Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte), die sich gemeinsam für einen menschenrechtskonformen Maßnahmenvollzug einsetzen.
plattform-mnvz.at
Blickpunkte ist eine zweimonatlich erscheinende Zeitschrift über den und aus dem Straf- und Maßnahmenvollzug. Sie wurde 1994 in der Justizanstalt Mittersteig gegründet.
blickpunkte.co