Alle meine MütterDichter Innenteil

Meine Mütter im Geiste (Illustration: Jella Jost)

Cherchez la Femme (01/2023)

Ein neues Jahr. Draußen Böller, Lärm, Betrunkene. Wie jedes Jahr. Meine Hündin hat ein Cannabinoid ohne THC erhalten. Es wirkt endlich. Sie ist halbwegs ruhig, zittert nicht mehr am ganzen Leib. Unsere fortschreitenden Jahre. Wie alle Jahre. Wie alles, was ich liebe. Sie, die Hündin, sie, die Zeit, auch weiblich, sie, meine Freundinnen, sie, meine Mutter, sie alle, meine ungeborenen Schwestern, sie, meine geliebten Kusinen, sie, meine mehr und mehr verblassenden Großmütter und Urgroßmütter, sie, meine noch lebende Schwiegermutter, sie, meine zahlreichen Schwägerinnen, sie, meine Nichten, und sie, die ich alle noch kennenlernen werde. In meinem Alter ist das nichts Besonderes mehr. Jahreswechsel. Ich erinnere mich präzise an jene Zeit in meinen Zwanzigern, als ich betete, das neue Jahr möge mir Arbeit bringen, möge mir gewogen sein, fast schon mehr ein Gebet als ein banaler existenzieller Wunsch, aber auch beten kann durchaus banal sein oder existenziell. Für eine meiner Freundinnen tue ich das in der Tat jetzt. Unerwartet. Sie ist familiär bedingt zutiefst katholisch geprägt. Das alte Jahr bescherte ihr die Diagnose eines invasiven Krebses. Das neue Jahr zerfällt. Ich bin weder katholisch noch tief christlich gläubig, aber ich habe das Bedürfnis, oft an sie zu denken. Ich nenne diese speziell intensive Form der Gedanken beten. Unsere Beziehung, wie einige meiner engeren früheren Kontakte zu Freundinnen, war von ausgezeichneten Gesprächen aber auch von Konflikten geprägt. Unsere Weltanschauungen prallten gegeneinander, spürbar, hörbar, manchmal auch mit Tränen. Immer wieder aber kamen wir zusammen. Das lag auch an ihr, die nicht vor mir geflohen ist. Bin ich doch oft rau und schroff, wenn mir was nicht passt, kann verletzen und dicht machen, bevor die Wunde im Inneren wieder aufplatzt. Wenn andere mich attackieren, fahre ich die Mauern hoch. Gelegentlich lasse ich auch die Waffen sprechen. Die üblichen Vorgehensweisen: tot-stellen, Angriff oder Flucht. Nicht so bei ihr, sie und ich, wir haben uns einander ausgesetzt. Das war gut so. Beide haben wir dadurch viel erfahren und aneinander schätzen gelernt. Schmerzen sind ein essenzieller Teil der Lebenserfahrung. Das ständig mediale Gelaber von Happiness wirkt wie das Schlecken am Eis der Antarktis. Da kannst du lange schlecken, bis es süß wird. Denn es wird nie süß werden. Die Bitternis ist Teil der Süße – warum hat uns das niemand gesagt, als wir heranwuchsen!

 

Innere Bilder. Fluid. Abnabelung.

 

Bücher lagen diesmal in der Weihnachtspost, zum Beispiel eines von Verena Kast, Loslassen und sich selber finden. Die Ablösung von den Kindern. Ja, das passt genau. Treffer! Das ist der Status, in dem ich mich befinde. In zwei Tagen und einer Nacht dazwischen gelesen und diese Nacht nicht geschlafen. Noch einmal diesen unendlichen Schmerz ohne Anfang und Ende erlebt, diese Sehnsucht, die mich aufzulösen droht, diesen Schmerz, der sich hinzieht wie ein Kometenschweif über den Großmüttern, vorbei an meiner Mutter, über mich hinweggefegt, hin zu meiner Tochter. Verena Kast schreibt, die Auseinandersetzung mit der Mutter (ich sage: mit allen meinen Müttern) muss in der Adoleszenz stattfinden, sonst haben die Töchter eine abgeleitete Identität, keine autonome, sondern eine von außen, etwa von geliebten Männern (Vaterkomplex!) oder von kollektiven Rollenerwartungen an sie herangetragene. Die autonome Identität ist jene, die die spezielle Innenwelt der jeweiligen Frau berücksichtigt und im besten Fall auch ausdrücken kann. Als meine Mutter, später meine Kusinen und ich und selbst meine eigene Tochter nach Frauenbildern suchten, die uns entsprachen, stellte sich oft heraus, dass es wiederum Männerbilder waren, nämlich von Männern geprägte Bilder über Frauen, siehe «Der männliche Blick», eine mittlerweile wissenschaftlich untermauerte These aus der Frauenforschung des letzten Jahrhunderts. Geht man als Frau oder als sich fühlende Frau durch diese Welt der unendlichen Identitäten, ist es schwer, keinen Kompromiss eingehen zu müssen. «Die Bilder der inneren Verfassung können mit den Erwartungen der äußeren Verfassung übereinstimmen», schreibt Verena Kast, ja, aber wissen wir heute denn nicht, wie fluid diese Bilder im Inneren als auch im Äußeren sein können, wie schnell sie sich wandeln oder oft auch wandeln müssen? In Das Gastmahl lässt Platon Sokrates in folgender Weise zu Wort kommen: «… jedes einzelne lebende Wesen wird, solange es lebt, als dasselbe angesehen und bezeichnet. Ein Mensch gilt von Kindesbeinen an bis in sein Alter als der gleiche. Aber obgleich er denselben Namen führt, bleibt er doch niemals in sich selbst gleich, sondern einerseits erneuert er sich immer, andererseits verliert er anderes: an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und seinem ganzen körperlichen Organismus. Und das gilt nicht nur vom Leibe, sondern ebenso von der Seele: Charakterzüge, Gewohnheiten, Meinungen, Begierden, Freuden und Leiden, Befürchtungen: alles das bleibt sich in jedem einzelnen niemals gleich, sondern das eine entsteht, das andere vergeht.»

Auf www.spectrum.de lese ich eine besonders klare, bildhafte Erklärung: «Identität bildet ein selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren und der äußeren Welt. Genau in dieser Funktion wird der Doppelcharakter von Identität sichtbar: Sie soll einerseits das unverwechselbar Individuelle, aber auch das sozial Akzeptable darstellbar machen. Insofern stellt sie immer eine Kompromissbildung zwischen Eigensinn und Anpassung dar. Das Problem der Gleichheit in der Verschiedenheit beherrscht auch die aktuellen Identitätstheorien.»

 

Mutter, wer warst du? Tochter, wer bist du?

 

Die engsten Beziehungspersonen prägen uns als Kind und Jugendliche. Sich von dieser Symbiose zu befreien, passiert in der Pubertät oft durch einen Akt der Aggression, um sich ablösen zu können, in meinem Fall war es die «schlechte Mutter», die ich konstruierte, erstens um keine Schuld zu fühlen, zweitens um einen Sündenbock zu haben, mein Motiv der Abnabelung, ein Gegenmodell, das ich später als Mutter selbst überschritten hatte. Kast schreibt, dass sich Frauen mit ihren Müttern auseinandersetzen müssen, um zu einer eigenen Identität zu finden. Wenn Kast betont, das sei ein außerordentlicher emanzipatorischer Prozess, wenig spektakulär, mühsam durchzuhalten, so kann ich das persönlich bestätigen und finde ihre Aussage «die Stellung der Frau wird sich nicht grundsätzlich verbessern, solange sie sich eine eigene Identität vorenthalten läßt» sehr bedeutsam, vor allem im Kontext der Gender- und Trans-Debatten zwanzig Jahre später. Frau-Sein oder Mann-Sein ist soziale Konstruktion, ja, der Meinung bin ich ebenso, werfe aber ein, dass Frau-Sein erst gesamtgesellschaftlich aufgewertet werden muss, bevor wir’s demontieren. Ich persönlich hatte früher viel von meinem Vater angenommen, seine Körpersprache, seinen Habitus in der Öffentlichkeit und seine potente tiefe Stimme. Ich sah, wie er damit als Mann vorankam. Mich nannte man damals «burschikos». Ich wollte mich sozial als Mann und als Frau geben, je nachdem, wollte beides sein können, lustvoll alle Rollen spielen, nicht nur auf der Bühne, doch in den 70ern und 80ern war man damit schnell Außenseiter:in als Künstler:in und das Dumme war: Ich wusste das nicht. Ich bin erleichtert, dass die simple Kategorisierung nach Frau oder Mann sich radikal zu verändern scheint, gleichzeitig aber auch komplexer wird. In viele Richtungen geht das. Ich erkenne auch einen Gegentrend, die Suche nach Identitätszugehörigkeit eben durch Geschlechtszuweisung. Warum es laut Statistik mehr Transmänner als Transfrauen gibt, ist erstaunlich. Sind wir als Frauen immer noch in der Falle? Verdienen wir denn nicht immer noch massiv weniger? Sind die Erwartungen an uns Frauen nicht fast dieselben wie die an unsere Mütter? Wird weibliches Geschlecht immer noch dazu benützt um abzuwerten, auszubeuten, zu kontrollieren und zu diskriminieren? Verena Kast schreibt: «Diesem heimlich, unheimlich entwerteten Geschlecht soll man dann als Mädchen angehören – das ist nicht einfach; aber es wird einfacher, wenn die eigene Mutter und die Männer in der Familie sich solcher schleichenden Entwertungen bewußt sind und versuchen, etwas daran zu verändern, wenn also Wachheit gegenüber dem noch immer vorherrschenden Frauenbild erlebbar ist.» Es wäre alles so einfach. Niemand soll in ein Korsett gepresst werden. Lasst die maroden Vögel aus euren Köpfen fliegen, um neuen Ideen Platz machen zu können! Haltet nicht fest! Das ist Freiheit.