Ambulanzgebühren gefährden die Krankenversorgungtun & lassen

Stirb leise

„150 Schilling sind nicht die Welt“, meint Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Für Franz Bittner, Obmann Wiener Gebietskrankenkasse, ist die Ambulanzgebühr unsozial: „Sie trifft chronisch Kranke und sozial Schwache besonders hart“.Ab 1. Jänner 2001 wird diese Gebühr eingeführt: Mit ärztlicher Überweisung sind dann 150, ohne diese 250 Schilling zu bezahlen. Jährliche Obergrenze: 1000 Schilling. Neben privaten Ambulanzen sind davon ausgenommen: medizinische Notfälle (Lebensgefahr oder wenn auf eine ambulante Behandlung eine stationäre Aufnahme folgt), von der Rezeptgebühr befreite Personen, Schwangere, „alle Arten von Spendern“ (Blut, Plasma, Organe) sowie Behandlungen, die nicht „in angemessener Entfernung vom Wohnort“ durchgeführt werden können.

Für den Gesundheitssprecher der Grünen, Kurt Grünewald, ist die Definition medizinischer Notfälle, die von Selbstbehalten ausgenommen sind, „patientenfeindlich und unpraktikabel“. Die Ausnahme für die Befreiung von Selbstbehalten bei Trunkenheit und Suchtgiftmissbrauch zum Beispiel unterlaufe „die geltende Ansicht, dass Sucht und chronischer Alkoholmissbrauch als Krankheit zu werten sind“. Die Ausnahmeregelung des „schuldhaften Raufhandles“ mute den behandelnden ÄrztInnen bzw. dem Versicherungsträger laut Grünewald gar richterliche Aufgaben zu.

Eine in einem Ambulatorium tätige Angestellte des Gesundheitsdienstes, die anonym bleiben will, meint, dass die Ambulanzgebühr gerade jene Schicht trifft, „der1s am meisten weh tut“. Für die Angestellte geht unser Gesundheitssystem immer mehr „in Richtung Amerika“, wo nach dem Motto „stirb leise“ die kranken Armen bloß von der Straße geholt werden, damit sie das Stadtbild nicht verschandeln. Denn in Ambulatorien kommen vorwiegend Patienten mit geringem Einkommen, und zwar zur Grundversorgung. Und wenn niedergelassene Ärzte zu ihr sagen, dass man Ambulatorien ohnedies nicht mehr brauche, so stellt sie immer die Gegenfrage: Wollt ihr unsere (einkommensschwachen) Patienten wirklich haben?

Gesundheitsstaatssekretär Reinhart Waneck sieht in den Ambulanzen jedenfalls die „Wurzel des Übels“ für das 6,5-Milliarden-Loch bei den Krankenversicherungen, weil in den vergangenen drei Jahren die Spitalsaufenthalte um 20, die Ambulanzbesuche hingegen um 43 Prozent zugenommen hätten. Mit den Ambulanzgebühren soll da gegengesteuert werden. Denn für Waneck wie für die Wiener Plattform für Gesundheitsökonomie führen „Selbstbehalte sicherlich zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit Leistungen.“ Dagegen meint Klaus Frohner, Vorsitzender der Sektion der Angestellten Fachärzte der Wiener Ärztekammer: „Die Regierungsankündigungen über den Selbstbehalt wurden in der Kurie der angestellten Ärzte diskutiert und kategorisch abgelehnt“. Und Michaela Moritz, Geschäftsführerin des Österreichischen Bundesinstituts für Gesundheitswesen ist der Ansicht: „Der Selbstbehalt ist nur effizient, wenn er hoch ist, das ist aber wiederum unsozial, weil es nur eine kleine Gruppe gibt, die ihn sich leisten kann.“

Doch für Waneck sind Ambulanzgebühren keine „Selbstbehalte“, sondern ein „Behandlungsbeitrag“. Und dieser diene primär als Lenkungsinstrument, um „fehlgeleitete Patientenströme“ von den überlasteten, teureren Ambulanzen hin zum niedergelassenen Bereich umzuleiten.

Dazu der Präsident der Sozialversicherungen, Hans Sallmutter: „Den Krankenkassen wird mit den Belastungen der Patienten nicht geholfen. Für sie bedeuten diese Maßnahmen einen enormen zusätzlichen Verwaltungsaufwand.“ Allerdings hat die Regierung den Kassen gleichzeitig vorgeschrieben, den Verwaltungsaufwand zu verringern. Dabei zählt die österreichische Krankenversicherung für Sallmutter mit 3,7 Prozent Verwaltungsaufwand „zu den sparsamsten der Welt“. In der Schweiz kostet die Verwaltung zum Beispiel neun Prozent, in Deutschland immerhin 4,6 Prozent. Und die Einsparungs-Forderung in der Höhe von 1,5 Milliarden ist für den Präsidenten schwer durchführbar: „Dies ist bei einem Gesamtbudget von fünf Milliarden geradezu lächerlich! Soll nun jeder dritte Mitarbeiter bei den Kassen gekündigt werden? Oder soll den Versicherten ein Drittel der Leistung gestrichen werden?“

Die Leistungen werden auf jeden Fall teurer: Zum Beispiel muss man ab 1. Jänner 2001 bei einem Spitalsaufenthalt pro Tag statt 70 Schilling

100 Schilling zahlen. Diese und andere Änderungen im Gesundheitswesen (siehe Kasten) sollen insgesamt 4,1 Milliarden Schilling bringen.

Das bedeutet im Durchschnitt für jeden der vier Millionen Erkrankten pro Jahr in Österreich eine Mehrbelastung von 1.000 Schilling. Doch die Patienten werden das Sparpaket nicht nur in der Brieftasche, sondern auch in der Betreuungsqualität spüren. Zum Beispiel mit der Einsparung von 1.500 Zivildienern geht den heimischen Krankenhäusern und Ambulanzen eine wichtige – und kostengünstige – Personalquelle verloren.

In diesem Zusammenhang ist Monika Mauerhofer, Vorsitzende der Hauptgruppe Gesundheitsberufe im Krankenanstaltenverbund, in „großer Sorge um das Gesundheitswesen. In England wurde gezeigt, wie ein gutes System mit Sparmaßnahmen zu Bruch gehen kann.“ Der Abbau von 10.000 Spitalsbetten und dementsprechend vieler MitarbeiterInnen in den Gesundheitseinrichtungen ist für sie eine der drohenden Konsequenzen. In seinem „aktuell“ fragt der ÖGB: „Ist in Österreich ein Rückschritt in Zeiten, als ein Arztbesuch und gute Behandlungen noch Luxus für Reiche waren, vorauszusehen?“


ÄNDERUNGEN IM GESUNDHEITSWESEN

  • 20-prozentiger Selbstbehalt für Leistungen bei klinisch-psychologischer Diagnostik.
  • 100 Schilling Verpflegungssatz pro Aufenthaltstag im Krankenhaus.
  • Krankengeld nur ein Jahr (bisher 1,5 Jahre).
  • Geringere Zuschüsse der Kassen zu Kieferregulierungen, fest sitzenden Zahnersätzen, Heilbehelfen und -mitteln.
  • Erhöhung der Rezeptgebühr seit 1. Oktober 2000 von 45 auf 55 Schilling.
  • Einführung einer Ambulanzgebühr. Ab 1.1.2001 sind mit ärztlicher Überweisung 150, ohne diese 250 Schilling zu bezahlen. Jährliche Obergrenze: 1000 Schilling. Private Ambulanzen sind davon ausgenommen.
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