Wohin geht die Puppe, wenn der Vorhang fällt? Stirbt sie den besseren Bühnentod als der Mensch? Und warum hat Österreich mit seinen vielen Puppentheatern keine Ausbildungsstätte? Text: Wolfgang Beyer, Fotos: Lisbeth Kovačič
Lange Zeit wurde das Figurentheater – zumindest in unseren Breiten – als «kleine Kunst für kleine Leute» betrachtet; also für das «einfache Volk», dem Puppenspiel als Surrogat fürs «richtige» Theater zu dienen hatte; und für die Kinder, die sich bei Jahrmärkten am Kasperl erfreuten und in der Adventzeit an Märchen- und Krippenspielen. Zu ändern begann sich das erst im zwanzigsten Jahrhundert, und ein Österreicher hatte daran wesentlichen Anteil: Der Jugendstilkünstler Richard Teschner schuf aus der Tradition des javanischen Stabpuppenspiels eine ganz neue Kunstform – und beeinflusste damit Generationen. Teschner dürfte der einzige österreichische Puppenspieler sein, der es zu einem Ehrengrab am Zentralfriedhof und zu einer nach ihm benannten Gasse in Währing gebracht hat. Seine Bühne, die er Figurenspiegel nannte, ist im Wiener Theatermuseum zu besichtigen.
Von Moskau in den Alsergrund.
Noch wesentlicher war die Arbeit von Sergej Obraszow, der es binnen eines knappen Jahrzehnts vom unbekannten Solisten zum Leiter des Zentralen Puppentheaters in Moskau brachte, der weltweit größten Bühne ihrer Art. «Was vermag also eine Puppe, die kein Eigenleben besitzt, auszudrücken, wozu der Mensch nicht fähig sein sollte?», schrieb er. «Worin liegt ihre Stärke? Wie sonderbar das auch klingen mag, sie liegt gerade darin, dass sie nicht lebendig ist.»
In den frühen Siebzigern – Obraszow war inzwischen ein internationaler Star, Herrscher über dreihundert Mitarbeiter_innen und unzählige Figuren – besuchte die einundzwanzigjährige Julia Reichert eine seiner Vorstellungen und war tief beeindruckt: Dadurch, schreibt sie, «verwandelte sich mein Interesse in eine anhaltende Lust, das plötzlich direkt erlebbare, in seinen inneren Gesetzen offengelegte Spiel mit Puppen weiterhin zu verfolgen.» Ergebnis dieser bis heute «anhaltenden Lust»: 1989 gründete sie gemeinsam mit Christopher Widauer das Kabinetttheater in Graz, 1994 übersiedelten die beiden mit ihrer Bühne in den Wiener Alsergrund.
Die Kompetenz zu sterben.
Ein Besuch im Kabinetttheater ist fast wie ein Privatbesuch bei der Prinzipalin. Das Theater ist nämlich in ihrer Wohnung untergebracht, Küche und Wohnraum dienen zugleich als Garderobe und Foyer. Der Fokus liegt hier einerseits auf literarischen Kleinodien (von H. C. Artmann über Hugo Ball und Alfred Jarry bis zu Karl Valentin), andererseits auf Reicherts Faible für moderne und zeitgenössische Musik, das seinen Ausdruck in Kooperationen mit namhaften Komponist_innen wie Olga Neuwirth, Wolfgang Mitterer oder Walter Soyka fand. Das Repertoire umfasst inzwischen mehr als sechzig Minidramen, nicht wenige davon haben bekannte Autor_innen wie Wolfgang Bauer, Rosa Pock oder Gerhard Rühm eigens für diese Bühne verfasst. Die neueste Eigenproduktion, Zeichne mir ein Schaf, ist eine Adaption von Antoine de Saint-Exupérys Bestseller Der kleine Prinz. Mittels Puppen, Objekten, Live-Zeichnung und einem Erzähler (Wolfram Berger) wird die Reise des Prinzen von seinem kleinen Planeten auf die Erde auf poetische Weise erzählt. Am Ende stirbt er, gebissen von einer giftigen Schlange. Traurig. Aber das können sie eben besonders gut, die Puppen: sterben. Ein Buch, das die Arbeit des Kabinetttheaters dokumentiert, heißt nicht von ungefähr: Niemand stirbt besser.
Poesie am Würstelstand.
So ähnlich sieht das auch Simon Meusburger vom Schubert Theater. Hier, wo einst schlüpfrige Filmszenen für männliches Gestöhne sorgten, gibt es sogar ein alljährliches Festival mit dem Titel Puppen sterben besser. Das «Figurentheater für Erwachsene» existiert seit zwölf Jahren, hat Platz für 72 Zuseher_innen und bietet jährlich rund 160 Vorstellungen. Bekannt wurde es durch die Zusammenarbeit Meusburgers mit Nikolaus Habjan, der seine Puppen inzwischen an weit größeren Bühnen tanzen lässt, aber immer wieder im Schuberttheater gastiert; etwa mit der großartigen Produktion F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig. Es geht darin um das Schicksal jener Kinder, die von Nazi-Ärzten am Spiegelgrund gequält und ermordet wurden – eine vielbeachtete und preisgekrönte Inszenierung, die beweist, dass Figurentheater nicht nur poetisch, sondern auch höchst politisch sein kann.
Die jüngste Eigenproduktion in der Währinger Straße heißt Die Welt ist ein Würstelstand und erzählt von der reschen Frau Resch, die es auch schon einmal leichter gehabt hat mit ihrer Imbissbude – und ihr Leben dennoch mit herbem Charme und galligem Schmäh meistert. Gespielt wird sie von Manuela Linshalm, einer Schauspielerin, die per Zufall zum Figurentheater kam. Nikolaus Habjan, erzählt sie, habe ihr einmal eine seiner Klappmaulpuppen in die Hand gedrückt und gemeint: «Probier mal!» Daraus wurde eine große Leidenschaft. Wie Habjan bevorzugt auch sie das offene Spiel: «Wir zeigen vom ersten Moment an, wie es funktioniert; und bieten an, sich auf eine Illusion einzulassen – oder eben nicht.» Und Direktor Meusburger ergänzt: «Die Puppe darf viel mehr als der Mensch. Würde ein Schauspieler so agieren, wäre es wohl ‹Overacting›.»
Totenkopf im Kleiderschrank.
Die meisten, die sich hierzulande mit Figurentheater beschäftigen, kommen, wie Linshalm und Meusburger, vom «Menschentheater». Eine adäquate Ausbildung für Puppenspiel gibt es in Österreich nämlich nach wie vor nicht – was wohl einiges über die Wertschätzung dieser Kunstform aussagt. Christoph Bochdanksy ist deswegen nach Deutschland gegangen und hat in Bochum das Figurentheater-Kolleg absolviert.
Der gebürtige Tullner ist Herr über ein phantastisches Reich: als Autor absurder Geschichten, als Schöpfer skurriler Skulpturen und als Theatermacher, der mit seinen Kreationen Erwachsene ebenso in den Bann zu ziehen vermag wie Kinder. Seine Puppen sind einmal winzig klein, ein anderes Mal überlebensgroß, und seine Theaterabende haben zuweilen mehr mit Performance zu tun als mit klassischem Puppenspiel. Auf die Frage, wie er zu seiner Profession gekommen ist, antwortet er: «Ich habe noch nie was anderes gemacht!» Schon im zarten Kindesalter habe er den Kleiderschrank in ein Gruselkabinett verwandelt. Und sich gefreut, wenn die Mutter ordentlich erschrocken ist, weil ihr zwischen Hemden und Hosen ein beleuchteter Totenschädel entgegengegrinst hat. Mit vierzehn Jahren hat Bochdanksy begonnen, Puppen zu bauen. Zunächst nicht aus theatralischem oder gar literarischem Interesse, sondern wegen der Lust am Haptischen. Für ihn sind Puppen «Zwischenwesen»: «Ich weiß, dass sie keine Wesen sind, aber ich empfinde sie als Wesen.» Weshalb sie – hier widerspricht Bochdanksy seinen Kolleg_innen – «eben nicht besser sterben können. Puppen sterben überhaupt nicht.»
Alles besser!
Also, noch einmal zurück zum Anfang. Im Kabinetttheater treffe ich den bekannten Schau- und Sprachspieler Wolfram Berger, der dort schon oft auf der Bühne stand. Was können Puppen nun tatsächlich besser? Bergers Antwort: «Alles. Nur nach der Vorstellung alleine nach Haus’ gehen, das können sie nicht. Aber das müssen sie auch nicht. Weil: Die Puppe ist überall zu Haus’.»