Canale Grandevorstadt

Madeleine Napetschnig über den wiederentdeckten Reiz des Donaukanals

Beim Erstkontakt halten Besucher den Donaukanal nicht selten für die Donau. Der/Die Wiener_in würde hier gleich korrigierend einschreiten und erklären, dass der Donaustrom viel weiter östlich dahinfließt.

Also außerhalb der Wahrnehmung der meisten Stadtbewohner_innen liegt, in einer früheren Brache, die bis zum Bau der Donauinsel vielen nicht ganz geheuer war. Manche Wiener_innen würden sich sogar damit rühmen, transdanubisches Gebiet noch nie betreten zu haben. Das ist sie, die dem Wiener eigene Ambivalenz, der nur Uneingeweihte einen Schuss Bösartigkeit unterstellen. Die Dinge schönreden, aber Abstand halten, man weiß ja nie.

Ganz Unrecht hat der Gast nicht, wenn er im Kleinen das Große erkennt: Der Donaukanal ist Teil des Stroms und bildete im Mittelalter den Hauptarm eines verzweigteren Fluss-Systems. Wiederholt drohte er die Innenstadt zu überschwemmen, so dass man ihn seit dem 16. Jahrhundert Stück für Stück zu regulieren versuchte, bis er heute stark verbaut, kaum strukturiert und ziemlich berechenbar tief durch das Stadtbild schneidet. Etliche Brücken überspannen den Kanal, doch das Trennende zwischen dem Alltag der City und der Leopoldstadt, dem einst jüdischen Viertel und heutigen Ziel-eins-Gebiet der Gentrifizierer, dem Grün des Praters und den Industriezonen von Simmering, ist greifbar geblieben.

Für Außenstehende ist es ein Mysterium, warum die Wiener im 20. Jahrhundert einem dermaßen zentralen Gewässer so wenig Augenmerk schenkten. Im 19. Jahrhundert begann man im Zuge des nachrevolutionären Baubooms auch hier die freien Flächen zu erschließen, dadurch blieb wenig Grün, bis auf die schrägen Wiesen und einen schmalen Saum aus Aubäumen. Wenig anheimelnd war auch der Umstand, dass das Fließwasser traditionell zur Entsorgung verwendet wurde, auch der Wienfluss nicht gerade prickelnd in ihn einmündete. Der Gedanke an die einstigen Flussbäder ist heute wohl der Nostalgie verpflichtet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich die Technokraten durch, um die stark beschädigten Uferkanten zu versiegeln. Die Idee, eine Stadtautobahn parallel zum Donaukanal anzulegen, wurde zum Glück verhindert, hätte aber zur Optik einiger Neubauten gepasst. Auch ohne Autobahn wälzt sich viel Verkehr nahezu den gesamten Flusslauf entlang.

Beachbars, Buden und mehr oder weniger temporäre Restaurants … man begegnet Läufer_innen und Radfahrer_innen, Graffitisprayer_innen oder Urban Boulderer_innen, und auch Hunde mögen den Donaukanal als Gassistrecke

Klingt nach einem wenig wirtlichen Ort, möchte man meinen. Das Gegenteil ist der Fall. Der Donaukanal übt schon deshalb neuen Reiz aus, weil er sich zumindest gastronomisch rehabilitiert hat. Pläne lagen in den Laden der Stadtpolitiker ab, aber in den letzten Jahren konnten Beachbars, Buden und mehr oder weniger temporäre Restaurants auf den gemauerten Ufern zwischen der Urania und der Rossauer Brücke Platz nehmen. Es sind nicht allzu viele, so dass sie sich in Stil und Anspruch gut voneinander abgrenzen. Damit kann sich der/die Auskenner_in ohne Gesichtsverlust unter die Touristen_innen oder Ottonormalgäste mischen, die den Donaukanal entdeckt haben. Vieles wirkt improvisiert schick, abends darf es lange laut bleiben – wo es untertags doch ganz ruhig ist. Ein paar Meter Niveauunterschied zur Straße reichen schon, um die Kulisse akustisch zu beruhigen.

Manche brauchen nicht einmal einen Ausschank, um hier zu feiern. Sie setzen sich in die abfallenden Wiesen, vernetzen die Bäume mit Hängematten und bringen eigenen Proviant mit. Mit dem Abstand zum Zentrum verläuft sich die kommerzielle Nutzung des Flussraums ohnedies, er wird grüner, bleibt aber einförmig. Je weiter man nach Nordwesten oder nach Südosten vordringt, desto häufiger begegnet man Läufer_innen und Radfahrer_innen, stellenweise auch Graffitisprayer_innen oder Urban Boulderer_innen, die durch die dicken Kaimauern steigen. Leute dösen im Gras, auf den Bänken, ihr Blick verliert sich im grün- bis bräunlichen Wasser. Hunde mögen diese Gassistrecken. Für einige Anrainer_innen ist die Uferidylle der einzige Lichtblick vor der Haustür.

Es ist eine Flusszone, an der man das Detail schätzt: die Erlen, Weiden und Pappeln, das schnelle Wasser, die Ausflugsdampfer zur Donau und das Schnellboot nach Bratislava, das mit großen Wellen flussabwärts pflügt. Selten verirrt sich ein Kajak hierher.

Ganz unten, wo der Kanal in die Donau zurückstößt, wird die Umgebung entrisch (unheimlich): Der Praterspitz ist eine verlassene Gegend, Teil einer noch viel größeren Aulandschaft, in der nur noch ein paar Fischerhäuschen (auf Stelzen) stehen und Daubeln (quadratische Fischernetze) im Wasser baumeln. Der obere Spitz hält da dagegen als ein Durchgangsort von Brücken, Nussdorfer Schleuse und Wehr. Otto Wagner ließ hier im Zuge eines neuen Verkehrskonzeptes für Wien beispielgebende Jugendstilarchitektur errichten. Dass von der nie in Betrieb gegangenen Kaiserbadschleuse auf der Höhe des Zentrums nur Wagners «Schützenhaus» zeugt, war Schicksal. Ewig dämmerte eines der schönsten Objekte in Wien vor sich hin. Endlich ist es saniert.

Überhaupt wurde das Kanalufer immer wieder zum Schauplatz großer Bautätigkeit. Zuletzt galt es, an manchen Stellen den Brutalismus zu ersetzen, und an anderen wieder, die Schätze der Nachkriegsmoderne zu sanieren und freizulegen. Man kann auch zeitgenössische Objekte betrachten, die von Stararchitekten erbaut und von der Kritik verrissen wurden. Ob zu Recht, sei dahingestellt.

Jüngere architektonische Identität der Stadt lässt sich an den Kanalufern jedenfalls weit besser ablesen als etwa am Ring. Im Vorbeifahren mit dem Fahrrad oder dem Schiff ergeben sich dann überlappende Bilder von Historismus und Moderne, Gründerzeit und zeitgenössischem Bauen. Da die historistische Rossauer Kaserne – ein riesiger Backsteinbau im Stile eines Tudorschlosses -, dort die umgebaute Fünfzigerjahre-Architektur der neuen Uni Wien Rossau, dazwischen der Blick auf die geisterhafte Votivkirche. Und unweit der Ringturm. Der elegante Bau mit dem Glaskranz (entworfen von Erich Boltenstern) ist das Wiener Hochhaus schlechthin. Man weiß nicht, was schöner ist: der Ringturm als regelmäßig eingehülltes Kunstwerk, weihnachtlich beleuchtet oder schlicht als Ikone. Dass der Wiener immer ein Auge auf ihn hat, liegt allerdings an etwas anderem: Die grünen, roten und weißen Lichter auf seiner Spitze zeigen ihm, wie das Wetter wird. Verlässlich.

Madeleine Napetschnig, 1967 in Kitzbühel geboren, ist Redakteurin der Wiener Tageszeitung «Die Presse» und überzeugte Donaukanal-Anrainerin.