Cherchez la Femme: Da liegt der Hund begrabenDichter Innenteil

Illustration: Jella Jost

Über den Film Erik & Erika

Ich beginne mit einem Erlebnis aus meiner frühen Jugend. Die Aus­wirkungen und mein feministi­scher Widerstand gegen alles, was männlich, Arzt und älter als fünfzig war, verstand ich erst im Erwachsenenalter. Der Schmerz beim Schreiben wunderte mich. Er bohrt. Dachte ich doch, ich sei über alles hinweg. Die Selbsttäuschung gelingt mir immer wieder recht gut. Da liegt der Hund begraben.

In den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts hatte man mich als ein dreizehnjähriges Mädchen, das gerade in die Pubertät kam, nicht gefragt, ob ich mit der gynäkologischen Operation einverstanden wäre. Ganz zu schweigen von der Untersuchung vorher. Meine Mutter sprach, merkwürdigerweise in subalterner Rolle (weißer Kittel Reflex) mit «ihrem» Gynäkologen in meiner ersten Untersuchung über die OP, scherzte und flirtete, während ich – ich blieb außen vor – mit gespreizten Beinen, nackt, innerlich Hilfe schreiend, auf dem typischen, gänzlich unnötigen Gynäkologenstuhl eingefroren panisch lag, wie auf der Folter. Der Gynäkologenstuhl, auch Gyn-Stuhl genannt, ist ein Untersuchungsgerät, das von einem Mann, Dr. Eckhard Goepel, erfunden wurde und ausschließlich dem Zweck dient, es den Ärzten und Ärztinnen bequem zu machen, nicht den Patientinnen. Ich weiß, dass es anders geht. Mit 32, während meiner ersten Schwangerschaft, suchte ich eine feministische Gynäkologin – und fand sie. Bei ihr liegt man ganz einfach auf der Couch! Das geht genauso. Für beide.

Mein Hymen entsprach nicht der Norm

Beine spreizen in steriler Umgebung, vor einem unbekannten alten Mann, der mir aufgegeilt zwischen die Beine sah – es gab nichts Schlimmeres. Ich war ja noch Kind, sozusagen untouched, naiv, gänzlich offen. Ich spürte und erlebte ganz deutlich eine Grenzüberschreitung des Arztes, aber meine Mutter griff nicht ein. Dieses Erlebnis hatte mich stark geprägt, meine Sexualität anfangs dramatisch beeinträchtigt. Niemals hatte ich mit meiner Mutter darüber gesprochen. Mit ihr war kein Diskurs über Sexualität möglich, als Frau, die selbst unterdrückt wurde, die Gewalt im Kreißsaal und Abhängigkeit vom Partner erlebte. Krankenhaus O-Ton während der Wehen gegenüber meiner Mutter als Privatpatientin: «Schreien Sie gefälligst nicht so laut wie eine Proletin!». 1960er-Jahre. Frauen hatten nichts zu melden. Der Frauenkörper gehörte der Ärzteschaft. Männer werkelten in den Vaginen, schnitten Körperteile weg, die sie niemals wegschneiden hätten müssen, verdienten einen Haufen Geld damit. Die Frau aber blieb nur ein Stück Fleisch. Über mich wurde entschieden. Mein Hymen, so hieß es, entsprach angeblich nicht der Norm, es wäre zweifach vorhanden, also wurde ich beschnitten, zurechtgeschnitten, zur Norm exzidiert, damit der zukünftige Ehemann beim Einsamen der Gattin keine Probleme kriegt. Ich, doppelte Jungfrau, wurde entjungfert. Körperlich und seelisch. Das Ärgste folgt noch. Kurz vor der OP lag ich wieder, noch bei vollem Bewusstsein, auf dem Gyn-Stuhl, diesmal vor vier Assistenzärzten und dem Gynäkologen, der mir im Beisein aller meine Schamhaare abrasierte. Wieso ließ man mich das nicht selber machen? Ich sah erstarrt zu wie alle in meine Vagina starrten. Es war ein entblößender Übergriff und einer der schlimmsten Momente in meinem Leben.

Meine Akte wurde geschreddert

Wussten Sie, dass eine Krankenakte einer Krankenanstalt 30 Jahre aufbewahrt werden muss? Auf meine schriftliche Anfrage an jenes Krankenhaus, wo die Operation privat durchgeführt wurde, schreibt mir der Leiter Marketing & Business Development: «Laut Gesetz ist das Krankenhaus verpflichtet, die Dokumentation stationärer Patienten 30 Jahre lang aufzubewahren und jene von ambulanten Patienten 10 Jahre lang. Es wären daher keine Unterlagen mehr vorhanden.» Wie schade, denke ich mir. Jetzt, wo ich alt werde und wo es mir so wichtig wäre, endlich genau hinzusehen, was damals warum passiert ist und den Namen des Arztes zu erfahren, jetzt ist es offensichtlich zu spät. Auf meine Frage, wohin die Akten gelangen, antwortet mir der Herr, sie würden von einem spezialisierten Unternehmen vernichtet. Geschreddert? Anzunehmen. Zehn Jahre ist eine lächerlich kurze Zeit. Bevor man als Frau respektive als Mädchen erst die Reife dazu hat, ein Trauma zu begreifen und in der Folge aufzuarbeiten, ist es womöglich zu spät, um rechtliche Konsequenzen einzuleiten. Könnte da nicht eine Gesetzesänderung erfolgen?
Wie es nun zu meiner Auseinander­setzung mit jenem medizinischen Eingriff letztendlich kam und warum ich mich entschied darüber zu schreiben, ist vor allem einer bedeutenden Szene in dem sehr bedrückenden Film über Erika-Erik Schinegger geschuldet. Erika, die Ski-Weltmeiste­rin 1966, die damals als Frau den Sieg errang, wurde groß gefeiert in ihrem Dorf, erhielt ein Grundstück von der Gemeinde, Jubel, Glanz und Gloria in allen Facetten. Erik wuchs als Erika auf, wurde als Mädchen erzogen, fühlte sich zu Mädchen hingezogen, aber darüber sprach man ja im Dorf nicht. Sex war tabu. Geschlechtsteile wurden nicht hinterfragt, man war ein Mädel oder ein Bub. Dass es Intersexualität gibt, davon war damals keine Rede. Medizinisch betrachtet waren die männlichen Geschlechts­teile der vorerst weiblich vermuteten Erika nach innen gewachsen. Es wäre also ein seelisches und körperlich Dra­ma gewesen, hätte Erik auf den ÖSV gehört und weibliche Hormone genommen. Denn der ÖSV war ge­zwun­gen bei Erika einen Chromo­somentest durchzuführen und musste feststellen, dass Erika Erik ist. Der ÖSV kennt da keine Spompanadeln, Erika sollte Frau bleiben, mit der Hilfe von weiblichen Hormonen, damit man dem ÖSV nichts nachtragen konnte. Eine Tortur setze sich in Gang, die für Erik lebensbedrohlich gewesen sein muss; Ausgrenzung, Entblößung; Diffamierung; Identitätsverlust; Jobverlust; der Primitivität der Leute preisgegeben. Jene Szene, in der Erika auf dem Gyn-Stuhl liegt, der Unterkörper frei bis zum Bauch, die Beine weit gespreizt, die hat mich gepackt, hat mich unfassbar wütend gemacht. Zwei Ärzte begut­achten die Geschlechtsteile von Erik. Da gibt es weder respektvolle Zurückhaltung, Verständnis, noch den Anflug von Empathie. Ein paar verächtlich hingeworfene Worte über das nicht eindeutig zu erkennende Geschlechtsteil erledigen den Rest der Unmenschlichkeit. Erik hat Glück im Unglück, stößt auf einen Arzt, der ihn versteht und ihn gut berät. Erika entschließt sich zur Ope­ration, in der Glied, Hoden nach außen geholt werden und die Harnröhre verlegt wird. Es wurden daraus mehrere Operationen. Zehn Tage lag Erik in einem versperrten Zimmer in einem Kloster, nur ein kleines Fenster ganz oben, völlig abgeschirmt von der Presse. Ein Martyrium. Marianne Sägebrecht als Nonne, die ihm mütterlich zur Seite steht, ist unübertrefflich. Markus Freistätter als Erik ist zum Verlieben, ein großes Talent und viel Unschuld. Ja, auch das ist männlich! Reinhold Bilgeri hat einen spannenden Biopic gedreht. Erik verlässt das Kloster als Mann. Das geschenkte Grundstück der Gemeinde wird ihm wieder aberkannt. Erik Schinegger lebt übrigens in seinem Heimatdorf. Wie man sowas schafft, frage ich mich. Heute sehen wir Geschlecht viel befreiter von religiösen Dogmen. Aber kulturelle Differenzen begrenzen die Gesellschaft immer noch. Der private Erik Schinegger musste lange um seine Würde kämpfen, das spürt man in jedem seiner Interviews viele Jahre später immer noch – die tiefe Verwundbarkeit. Das sich Aneignen und Beweisen von Männlichkeit war ihm besonders wichtig. Sein größter Stolz war die Zeugung, das betont er ausdrücklich, und die Geburt seines Kindes. Die Geschichte ist also gut ausgegangen. Wir gehen nach wie vor von Normalität und Durchschnitt aus, aber Durchschnitt ergibt sich ja logischerweise aus einer Gesamtmenge, die alles inkludiert. Sonst gäbe es ja nur einen Ausschnitt aber keinen Durchschnitt. Und da liegt der Hund begraben.

Mehr zu Gewalt in der Geburtshilfe hier:
www.hebammenblog.de/gewalt-in-der-geburtshilfe-roses-revolution-day