Cherchez la Femme: Gewalt im AlterDichter Innenteil

Illustration: Jella Jost – Wir sind wie Sternschnuppen im freien Fall

Warum besonders Frauen davon betroffen sind

Ich kenne aus direkter Erfahrung nur das Sterben meiner Mutter, als persönlichste und schmerzlichste Erinnerung überhaupt. Die allumfassende Gewalt, wie immer man sie auch benennen mag und welche Maske man ihr auch geben möge – die gesellschaftlich-strukturelle Gewalt, die seelische Gewalt der Eltern, die physische Gewalt der Eltern, die Gewalt des Staates, die Gewalt der Ärzte, die tägliche verbale Gewalt – sie ist überall anzutreffen.

 

Die Auswirkungen der Corona-Krise und das EU-Projekt MARVOW zur Stärkung von älteren Gewaltopfern

 

Mein Partner erzählte mir unlängst von einer seiner Kursteilnehmer*innen, die zusammen mit Maria Rösslhumer, der Geschäftsführerin des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser (AÖF), an einem zweijährigen EU-Projekt arbeitet. Mein Partner sagte, es gehe bei diesem Projekt um Gewalt an älteren Frauen. Er hatte mich neugierig gemacht und fragte bei Maja de Garcia nach, ob ich mit ihr sprechen könne. Ich konnte. Niemals hätte ich gedacht, dass mir, einer Frau mit 58 Jahren, das Thema Gewalt an älteren Frauen unter den Nägeln brennen würde. Naiv glaubte ich lange Zeit, irgendetwas könne mich davor bewahren, möglicherweise mein Intellekt, mein Partner, meine Kinder oder eine gute Altersverwahrung, sprich Seniorenheim, denn an «Residenz» lässt sich bei meinem Einkommen nicht einmal denken. Es gab ja dieses Jahr aufgedeckte Fälle von Missbrauch und Verwahrlosung in anderen EU-Ländern, die beispielhaft grausam waren. Die Menschen verdursteten. Man ließ sie allein aus Angst vor Corona. Wie kann nur so etwas passieren in einem reichen Europa? An den Schutzbefohlenen, also Flüchtende, Kinder und Alte, sehen wir die Furunkel eines an Kapitalvermehrung ausgerichteten Systems wachsen. Jetzt, durch die Corona-Krise sichtbar geworden, sieht man zahlreiche Eiterherde. Manche platzen. Manche sterben daran. Allein gelassen. Der alleinige Fokus auf Einnahmen schaltet wohl die notwendige Kontrollmechanismen aus. Und die Arbeitenden stehen unter unfassbarem Zeitdruck und erhalten viel zu wenig Lohn.

 

Gewalterfahrungen werden nicht selten aus Scham oder Hilflosigkeit verschwiegen

 

Als meine Mutter 24 Stunden versorgt werden musste und mein Bruder all das organisierte, war ich naiv. Die erste Pflegerin schien freundlich, kompetent. Sie konnte kaum Deutsch, es gab sogar zwischen mir und ihr kaum Verständigungsmöglichkeiten. Wie sollte die Kommunikation dann zwischen ihr und meiner völlig dementen kranken Mutter funktionieren? Ich dachte wenig darüber nach, war völlig ohnmächtig der Gesamtsituation gegenüber. Einmal geschah Folgendes, über das ich mir erst Jahre im Nachhinein den Kopf zerbrach, aber diese Miniatur-Episode brannte sich mir ins Hirn, bis ich herausfand, was möglicherweise dahinter stecken könnte: Gewalt. Ich konnte sie damals nicht als solche identifizieren, obwohl ich merkte, dass irgendwas nicht stimmte. Es war gegen Weihnachten, die Familie saß um den Tisch, es gab gutes Essen, meine Mutter stöhnte, mit leerem Blick, am Essenstisch in ihrem Rollstuhl, sie wollte nichts essen. Die Pflegerin streckte ihr den vollen Löffel hin, meine Mutter bewegte den Kopf zur Seite als Verneinung und dennoch versuchte die Pflegerin den Löffel in den Mund zu forcieren. Da stand ich auf und sagte laut «Nein, lassen sie das bitte, sie will nicht.» Aber es führte nicht zu einem Gespräch zwischen mir und der Pflegerin. Es führte nicht zu Zweifeln oder dem Nachfragen beim Verein, wie es mit der Kontrolle stünde. Ich bereue das bis heute. Die Meisten von uns tappen da völlig unvorbereitet in die Falle. Und es fühlt sich in der Tat wie eine Falle an, aus der es scheinbar keinen Ausweg gibt und in der man an die seelischen und körperlichen Grenzen kommt.

 

Ältere Frauen sind vulnerabler als Jüngere, weil sie alt sind, weiblich, oft von verschiedenen Formen von Gewalt jahrelang betroffen.

 

Maria Rösslhumer schreibt über das Projekt Folgendes: Das Ausmaß und die Häufigkeit dieser Gewalt ist enorm hoch. Laut der FRA-Umfrage von 2014 berichteten 5 % der über 50-jährigen Frauen in der EU von körperlicher und/oder sexueller Gewalt, 3 % dieser Frauen gaben an, häusliche Gewalt von ihrem Partner erfahren zu haben. 19 % der Frauen über 60 wurden hingegen als von einem Lebenspartner missbraucht eingestuft. Erstaunlicherweise meldeten nur 14 % der Frauen den schwersten Vorfall bei der Polizei. Die Anzahl der nicht gemeldeten Fälle wird viel höher eingeschätzt. Nicht zu vergessen, dass ältere Betroffene vulnerabler sind als jüngere Frauen. Ältere Frauen sind in der Regel aus mehreren Gründen einem höheren Gewaltrisiko ausgesetzt: Weil sie alt sind, weiblich, häufig von jahrelanger Partnergewalt betroffen, lebenslang mit verschiedenen Formen von Gewalt konfrontiert, spezifischen und vielschichtigen Nachteilen ausgesetzt und oft wirtschaftlich sehr abhängig sind – besonders wenn sie bereits pflegebedürftig sind. Jedoch genau diese Dimensionen der geschlechtsspezifischen Gewalt werden häufig übersehen. Das zweijährige Projekt MARVOW (Englischer Titel: Multi-Agency Responses to Violence against Older Women) beschäftigt sich genau mit jenen Problemen. Maria Rösslhumer schildert, dass das Projekt in vier europäischen Ländern besteht, nämlich Österreich, Estland, Griechenland und Deutschland. Der Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser leitet das gesamte Projekt. […] Ziel ist es, ein Kooperationsnetzwerk aus verschiedenen Zielgruppen zu schaffen, die sich speziell mit Fällen von Gewalt gegen ältere Frauen befassen, z. B. Altenpflegedienste, Sozialarbeiter*innen, Gesundheitsdienstleister*innen, Polizei oder Opferschutzgruppen. Die Teilnehmer*innen erhalten Schulungen zum Thema, tauschen bewährte Verfahren aus und entwickeln gemeinsame Lösungen für häufig auftretende Probleme. In Österreich wird MARVOW in den Städten Salzburg, Wels, Linz und voraussichtlich in Amstetten/St. Pölten umgesetzt. MARVOW kooperiert mit WHOSEFVA, einer Schnittstelle für alle Organisationen, die mit Pflege zu tun haben. Dort gibt es einen Online-Kurs, den man sich wirklich näher ansehen sollte, er besteht aus vielen Videos, die mit anschließenden Fragen verlinkt sind. Das geht an die Nieren. Das macht betroffen. Es muss hingesehen werden. Die wissenschaftlichen Daten über Missbrauch an Älteren sind unterrepräsentiert und inadäquat! Pfleger*innen und Sozialarbeiter*innen werden nicht geschult im Erkennen der Signale eines Missbrauchs an älteren Menschen in ihren Organisationen. Dort setzt WHOSEFVA an und bietet ein Training an. 8 Partner*innen aus 6 EU-Ländern sind für das Projekt verantwortlich. Man möchte Prävention und Antworten bieten in Bezug zu Gewalt an älteren Menschen, insbesondere älteren Frauen. Der Kurs beschäftigt sich mit den Fragen: Wie gelingt zukünftige Gewaltprävention? Konzepte und Herangehensweisen werden hinterfragt und ein differenziertes Qualitätsmanagement angeboten.

 

Wir alle werden unsere Zeit in einer dieser Kategorien erleben! Seien wir uns dessen sicher.

 

Historisch betrachtet werden Menschen mit Gewalterfahrung in der Datenerfassung nicht berücksichtigt. Auch der genderneutrale Terminus wird von vielen Forscher*innen kritisch gesehen, denn dadurch gibt es weniger Fokus auf Gewalt, die ausschließlich an Frauen vorgenommen wird. Maja de Garcia sendete mir einen Film, der von Maria Rösslhumer in Auftrag gegeben wurde. Er weist auf weitere versteckte Gewalt-Botschaften, die wir zu erkennen oft nicht in der Lage sind. Wie der Bericht einer alten Frau über ihre Schwiegertochter: Anfangs schien alles wohlwollend. Irgendwann kippte die Situation. Ein schleichender Prozess, der immer größeren Grenzüberschreitungen. Das ging so weit, dass die Schwiegertochter der alten Frau den PC – den sie überaus liebte und gut bedienen konnte – heimlich wegnahm, damit sie nicht mehr selbstständig Bestellungen aufgeben konnte. Margit Scholta von Pro Senectute/Verein für das Alter in Österreich erzählt: Generell sind es Bemerkungen wie der Begriff «Überalterung». Über bedeutet ja, dass es zu viel ist – aber was ist zu viel? Daraus entsteht ein Bild, das erzählt, dass Alte stören und kosten, nichts mehr leisten, überflüssig sind. Sprache transportiert da ein Bild, wo Alte zu «Behindernden» gemacht werden, Menschen die andere stören. Und das setzt eine Form der Gewaltentwicklung in Gang; ich darf also, wenn es keine öffentliches Einschreiten gibt, wenn die Medien, die Gesellschaft nichts dagegen tun und sie diesem Bild folgen, dann darf ich den Alten etwas wegnehmen, ich darf ihnen etwas vorenthalten, ich darf sie zu etwas zwingen, ich darf ihnen sagen: «Das braucht ihr nicht.» Und dadurch entstehen diese Gewaltsituationen.
Es gibt viele subtile Versionen von Gewalt. Gerne sehen wir da weg. Mich erinnert die Konfrontation mit dem Thema an meine persönlichen Gewalterfahrungen, passiv und aktiv, sowohl familiär, strukturell und als Frau und Künstlerin und in einigen Jahren als alter Mensch. Es sind die Wehrlosen unserer Gesellschaft, die Schutz brauchen, die maßgebenden Pole, die das Gewicht austarieren, weil sie Zukunft und Vergangenheit darstellen: kleine Kinder, alte Menschen und Personen mit besonderen Bedürfnissen. Wir alle werden unsere Zeit in einer dieser Kategorien erleben! Seien wir uns dessen sicher. Maria Rösslhumer spricht davon dass monatlich in Österreich im Schnitt drei Frauen ermordet werden. Heute ist genau das im Burgenland wieder passiert. Diese Zahlen müssen uns warnen.

 

 

marvow.eu/

http://www.whosefva-gbv.eu/de-de/

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