Wie geht´s der Alternativkultur im Zentrum des Konsumwahnsinns?
Das Amerlinghaus im Spittelbergviertel hat als Freiraum eine besondere Stellung. Es verteidigt seine Position dort, wo das Phänomen der Privatisierung und Kommerzialisierung der Städte ohne Zurückhaltung wütet. Robert Sommer versucht, am Ende des 40. Jubiläums-Jahres des Kulturzentrums mit seinem «Alphabet des Amerlinghauses» dessen Bedeutung als Insel des Seins im Ozean des Habenwollens darzustellen.
Foto: Mehmet Emir
A wie Amerlinghaus
Schon vor der berühmten Besetzung der Arena (leerstehende Gebäude des Auslandsschlachthofs) wurde 1975 das Amerlinghaus, ein Biedermeier-Juwel im Spittelbergviertel, Wien 7, von Student_innen und Architekt_innen besetzt. Es war ein Protest gegen die geplante Kaputtsanierung des Spittelbergviertels.
B wie Boboisierung
Zur Zeit der Besetzung war der Spittelberg ein proletarisch-migrantisch geprägtes Grätzel. Die Rettung und Sanierung des Amerlinghauses leitete einen klassischen Gentrifizierungsprozess im Stadtviertel ein. Die Besetzer_innen wurden zu unfreiwilligen Pionier_innen der Aufwertung des Stadtteils, dessen neue Bevölkerung, ein Bobo-Yuppie-Akademiker-Gemisch, die ursprünglichen Bewohner_innen vertrieb, die sich die Wohnungspreise nicht mehr leisten konnten. Inzwischen ist die Gentrifizierung abgeschlossen, was z. B. bedeutet, dass die Wohnungen selbst für durchschnittliche Bobos nicht leistbar sind.
C wie Care Revolution
Das Kulturzentrum im Amerlinghaus beherbergt unter anderem das Projekt «Care Revolution». Der rebellische Teil des Personals in den Sozial- und Gesundheitseinrichtungen plant vom Amerlinghaus aus den Widerstand gegen die Streichung von Gesundheitsleistungen und gegen die Privatisierung von Gesundheitseinrichtungen. www.carerevolution.at
D wie Dritte Besetzung
Nach der ersten Besetzung des Amerlinghauses 1975 erfolgte eine zweite im Jahre 1980, bei der nicht mehr Architekt_innen und Studierende, sondern in Bewegung geratene unzufriedene junge Leute die Hauptrolle spielten – die Pionier_innen der Hausbesetzerszene in Wien. Ziel war die Herstellung eines basisdemokratischen, autonomen Modells der Selbstverwaltung. Die von den Ursprungsbesetzer_innen angestrebte Subventionierung des Betriebes durch die Gemeinde Wien konnte jedoch nur zum Preis der Abstriche von dieser Vision erreicht werden. Die Subventionsgeberin verlangte ein rechenschaftspflichtiges Gremium im Amerlinghaus, dem damit eine gewisse Machtposition eingeräumt wurde. Eine dritte Besetzung – deren Subjekte aber noch nicht sichtbar sind – hätte die Aufgabe, den abgebrochenen Prozess der Befreiung des Kulturzentrums aus der Gemeinde-Abhängigkeit zu einem Ende kommen zu lassen.
E wie Edition Exil
Das Amerlinghaus ist der Sitz der Edition Exil, deren Verlagsschwerpunkte Themen wie Migration und Emigration, Flucht und Rückkehr und «Schreiben zwischen den Kuklturen» sind. Der Verlag «entdeckte» Autor_innen wie Julya Rabinowich, Dimitré Dinev, Seher Çakır und Susanne Gregor.
F wie «Friesz oder stirb»
Die erwähnte «zweite Besetzung» im Jahre 1980 richtete sich gegen den Szene-Gastronomen Andreas Friesz, der das Amerlingbeisl, das ein Teil des besetzten Gebäudes ist, privatisiert, kommerzialisiert und boboisiert hat. Dass ein privater Unternehmer die Hälfte eines von unten erkämpften Commons okkupiert und daraus Gewinn schlägt, kann als Lapsus der Bewegung gesehen werden. Mithilfe der Gesiba, der Eigentümerin des Amerlinghauses, eignete sich der Unternehmer auch den idyllischen Innenhof an. Das Kulturzentrum darf ihn nur fünfmal im Jahr benützen. Die «Zweitbesetzer_innen» kommentierten diese Kommerzialisierung mit der Parole «Friesz oder stirb».
G wie Gesiba
Die soziale Bewegung zur Rettung des Spittelbergviertels, das schon dem Abriss geweiht war, verhalf der gemeindeeigenen Wohnbaugesellschaft Gesiba ungewollt zu einem profitablen Betätigungsfeld. Die Gemeinde beauftragte sie mit der Sanierung eines Großteils des Althausbestandes. Dem Kulturzentrum im Amerlinghaus wird fast ein Viertel der Gesamtsubvention als Miete an die Gesiba abgezogen. Dabei wäre eine symbolische Miete von 1 Euro angebracht: Die Wohnbaufirma könnte sich so dankbar zeigen für die Aufwertung des Areals, für die weder sie noch die Gemeinde, sondern die soziale Bewegung gesorgt hat.
H wie Homepage
www.amerlinghaus.at stellt die mehr als 60 Gruppen vor, die die Räumlichkeiten des Amerlinghauses regelmäßig benutzen. Einen großen Raum nehmen «Materialien und Texte» zur Geschichte des Hauses ab seiner Besetzung, zum Kampf gegen die drohende Schließung oder gegen die Reduzierung der Subventionen ein.
I wie Improspañol
Improspañol nennt sich eine dieser 60 Initiativen. Sie entstand aus Theaterimprovisations-Workshops auf Spanisch für Spanisch sprechende Personen und für Personen, die die Sprache lernen wollen – auf originelle und unterhaltsame Art. htttp://improspoanol.webnode.es
J wie Jubiläum
Zu ihrem 40-Jahres-Jubiläum organisierte das Amerlinghaus im Juni diese Jahres eine 40-tägige Kampagne der Solidarität für alle Gruppen, die für nichtkommerzielle Freiräume in der Stadt kämpfen. Die Broschüre FreiRaum, die einen Überblick über die «Die-Stadt-gehört-uns-Bewegung» schafft, ist im Amerlinghaus (Stiftgasse 8) erhältlich.
K wie Kommerzialisierung
Besonders in der Adventzeit empfinden sich die Amerlinghaus-Betreiber_innen oder -Nutzer_innen wie das letzte gallische Dorf inmitten des kommerziellen Wahnsinns. Die Aggressivität des Spittelberger Weihnachtsmarktes dringt durch alle Poren des nichtkommerziellen Kulturzentrums. Der Markt selbst ist ein Symbol der Kapitalisierung des Spittelbergs: Initiiert wurde er von engagierten Künstler_innen und Kunsthandwerker_innen – die von der Gentrifizierungswalze überrollt wurden.
L wie links
«Viele Menschen wollen soziale Räume, an denen sie nicht einem an neoliberalen Werten ausgerichtetem Leistungs- und Verwertungsdruck unterworfen werden, sondern vielmehr wertgeschätzt und in ihren Aktivitäten bestärkt werden. Wir bekennen uns dazu, dass wir linke Praxen für demokratiepolitisch wichtig halten und für unterstützenswert, umso mehr, als linke Diskurse zunehmend marginalisiert und unterdrückt werden», ist in einer Selbstdefinition des Kulturzentrums zu lesen. Die Vorsicht mancher subventionierter Initiativen, die ihr linkes Selbstverständnis nicht groß heraushängen, teilen die Betreiber_innen des Amerlinghauses nicht. «Wir wollen uns unsere Sprache nicht nehmen lassen», sagen sie.
M wie Die Managerinnen
Im Infobüro des Amerlinghauses arbeitet ein «Dreamteam» (Selbsteinschätzung): Lisa Grösel und Claudia Totschnig. Die beiden seit 15 bzw. seit 7Jahren im Amerlinghaus tätigen Angestellten sind für die Infrastruktur, für die Positionierung, für die Verwaltung und für die Raumvergabe an die Benützer_innengruppen zuständig. Gegenüber der ursprünglichen Idee der antihierarchischen Selbstorganisation der Hausbenutzer_innen hat diese «Verbeamtung» immerhin zur 20-jährigen Kontinuität der Arbeit beigetragen; der lange Atem der beiden «Managerinnen» reicht auch für die nächste Zukunft.
N wie nichtkommerziell
Das Haus ist voller Menschen, die die oft andernorts hohen Zugangsschwellen –allein hinsichtlich Raummieten und Konsumzwang – nicht passieren können.
O wie offene Deutschkurse
Dem autonomen, antirassistischen Kollektiv «Offene Deutschkurse» im Amerlinghaus ist es ein Anliegen, Zuwanderer_innen und Flüchtlingen einen Raum zum Deutschlernen abseits verpflichtender Prüfungen und Zeitdruck zu bieten. http://offenedeutschkurse.wordpress.com/
P wie Parteienverkehr
Das Amerlinghaus ist zum Treibhaus für marxistische und revolutionäre Gruppen geworden, die sich zum Aufbau einer Partei entschlossen haben. Von manchen Linken als «Sekten» belächelt, tragen ihre Veranstaltungen zur Vitalität des Kulturzentrums bei. Ihre Namen sind verwegen: Revolutionär Sozialistische Organisation, Revolutionärer Aufbau, Revolution, Linkswende, Arbeiter*innenstandpunkt.
R wie Romakultur
Das traditionelle Romafest im Herbst ist der gesellige Höhepunkt im Amerlinghaus-Kalender.
S wie Subvention
Die Subvention in Höhe von 250.000 Euro (davon gehen 60.000 als Miete direkt an die Gesiba) ist seit Jahren gleich, verliert also deutlich an realem Wert. Trotz jahrelanger Verhandlungen blieb die Forderung nach einer an die massiven Kostensteigerungen der vergangenen Jahre wertangepassten Grundkostenförderung für das Kulturzentrum unerfüllt.
T wie Tanzen, aber schwedisch
Als eines der exotischsten Projekte im Amerlinghaus gilt der Workshop «Schwedische Tänze». Infos: www.swfs.eu
U wie Es lebe der Unterschied
Eine Stadt kann man nicht mit gleichen Menschen, sondern nur mit unterschiedlichen Menschen bilden, sagte Aristoteles. Und eine Stadt ist dann frei, wenn man in ihr ohne Angst anders sein kann. Nach dieser Definition ist das Amerlinghaus der freieste Punkt der Stadt.
V wie Vergangenheit
Das Amerlinghaus ist das Erbe der subversiven Geschichte des Spittelberges, wie sie zum Beispiel in den Spittelbergliedern zum Ausdruck kommt. Prostitution, Pest und Massenelend sind die historischen Stichworte. Nirgends hausten mehr Menschen so dicht aneinander wie im Spittelbergviertel des 19. Jahrhunderts. Die Menschen schauten hinunter auf die Stadt Wien, wo sie die Chance auf ein besseres Leben witterten.
W wie Wilde Worte
Der Kabarettist und Liedermacher Richard Weihs ist Initiator der Langzeit-Reihe «Wilde Worte». Jeweils am zweiten Montag des Monats wird Literatur anders vermittelt, als es bei herkömmlichen Lesungen der Fall ist. Im Programmteil «Freie Wildbahn» kann der Zuhörer, die Zuhörerin den Spieß umdrehen und eigene Texte vortragen.
Z wie zentrale Lage
«Wie müssen die Stellung halten», sagen Lisa Grösel und Claudia Totschnig. Es gibt kaum einen Freiraum, der so sehr im geografischen Zentrum der kommerziellen Urbanität, also mitten in «feindlicher Umgebung» liegt und eine sinnliche, angewandte Negation neoliberaler Stadtentwicklung ist. Das Amerlinghaus darf nicht untergehen!