Das Album der «infamen Menschen»vorstadt

Ein Fotoalbum des Wiener Stadt- und Landesarchivs dokumentiert Angehörige der subalternen Klassen zu Beginn des
20. Jahrhunderts. Anton Tantner hat einen Blick hineingeworfen.

Auf dem dicken Band steht Album über Personen zweifelhafter Identität 1900–1932. 91 Personen – darunter 35 Frauen – sind darin in Bild und Schrift auf vorgedruckten Blättern festgehalten; die Porträts, angefertigt im Stil polizeilicher Fahndungsfotos, zeigen Frontal- und Seitenansicht der Gesichter, darunter eingetragen sind teils bruchstückhafte Angaben zu Namen, Herkunftsort und Geburtsdatum der dermaßen Beamtshandelten, ergänzt zuweilen um Hinweise auf deren weiteres Schicksal zwischen Fürsorgeeinrichtungen, Gefängnissen und Abschiebemaßnahmen.
Verzeichnet findet sich hier etwa ein im Jahr 1900 aufgegriffener Mann aus Kwitkowitz (Kvítkovice) in Mähren namens Franz Šiska; penibel werden seine am Hals befindlichen Narben angeführt und seine Tätowierungen: Wir erfahren, dass sein linker Arm mit «SF. 1861» – das sind die Initialen seines Namens sowie sein Geburtsjahr – beschriftet ist, sein rechter Arm wiederum zeigt ein Herz, das die Abkürzung «P.Z» umfasst – eine aktuelle oder verflossene Liebschaft? Šiska hat keine Beschäftigung, ist schwerhörig und «Stötterer». Da die Wiener Polizeidirektion ihn als nach Mähren heimatberechtigt identifiziert, wird er dorthin abgeschoben, so lauteten die Bestimmungen des in der Monarchie geltenden Heimatrechts, das die soziale Versorgung von Menschen in Not zur Aufgabe ihrer Herkunftsgemeinde machte, ganz egal, ob sie dort wohnten oder sich schon lange woanders befanden.
Darin lag wohl auch das Motiv für die Anlage dieses Albums: Einen Ausgangspunkt dafür zu haben, über Nachforschungen die Identität und die Heimatgemeinden der erfassten Personen eruieren zu können, um diese aus Wien abschieben zu können; wo dies nicht gelang, ist vermerkt, dass sie Einrichtungen der Gemeinde Wien zur Versorgung übergeben wurden.

Verbrecheralben.

Geschaffen wurde damit ein Kaleidoskop der an den Rand gedrängten Elenden, die am Glanz des Wiens um 1900 nicht teilnehmen durften: Sie arbeiteten – wenn sie denn überhaupt eine Beschäftigung hatten – als Schuhmacher, Tischlergehilfe, Taglöhner, als Kutscher, Magd oder Wäscherin; viele werden als «taubstumm» bezeichnet, manche despektierlich als «Idiotin» oder «Kretin» stigmatisiert. Von den meisten ist ein Name bekannt, dessen amtliche Richtigkeit jedoch zuweilen bezweifelt wird: Wenn eine Person sich Fürchtegott Barfuhs, Ruperta Gründonnerstag, Martin Taubstumm oder Eva Weihnacht und Brigitta Simmering nennt, dann liegt die Vermutung nahe, dass ein solcher Name in keiner Taufmatrik, in keinem Heimatschein vermerkt ist.
Das Genre der Porträtfotografie von marginalisierten Menschen ist dabei viel älter als gedacht: Als «Verbrecheralben» bezeichnete Fotosammlungen von Verdächtigen und Häftlingen wurden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von den meisten Polizeidirektionen der europäischen Metropolen angelegt; in der Regel wurden diese nicht in Form eines Buchs geführt, sondern in Schubladen karteiförmig aufbewahrt, wobei die effiziente Ordnung den Polizeibehörden nicht unerhebliches Kopfzerbrechen bereitete.

In bürgerlicher Tradition.

Noch älter sind jene Aufnahmen, die Carl Durheim 1852/1853 in der Schweiz von sogenannten Heimatlosen, also nichtsesshaften Personen in offiziellem Auftrag anfertigte; die dermaßen zu Stande gekommenen Lithographien standen in Tradition der bürgerlichen Porträtfotografie und sollten Fahndungszwecken sowie der Zwangsassimilation der Vagabund_innen dienen. Die heute in den Beständen des Schweizerischen Bundesarchivs befindlichen mehr als 200 Abzüge können mittlerweile über Wikimedia Commons eingesehen werden. Gemeinsam mit dem Wiener Album legen sie Zeugnis dafür ab, dass die damals sehr teure Technologie der Porträtfotos gleichermaßen der selbstgerechten Repräsentation wie der Auslieferung an einen verfolgenden Mob dienen kann, je nach sozialer Herkunft der Porträtierten.
Das Wiener Album der «infamen Menschen» wird zu einem Zeitpunkt angelegt, als ein beträchtlicher Teil der städtischen Bevölkerung in gigantischen Melderegistern verzeichnet ist und in Adressbüchern – dem berühmten «Lehmann» etwa – nachgeschlagen werden kann; es widmet sich jenen, die diesem feinmaschigen Netz bislang entgangen sind, denn das Zeitalter der Fotografie und des Papiers verlangt die Dokumentation jedes einzelnen, noch so randständigen Lebens.