Das ist so brutalArtistin

Musikarbeiter unterwegs … in ein dunkles Nass

2019 wurde chra aka Christina Nemec mit dem Preis der Stadt Wien für Musik ausgezeichnet. Im Juni veröffentlichte sie SEAMONS, ihr drittes Solo-Album.

Text: Rainer Krispel
Foto: Mario Lang

SEAMONS ist ein, wie mensch so schreibt, forderndes Werk. An dem die 1968 geborene Künstlerin, die zu ihrer Solo-Arbeit als chra noch Teilzeiterwerbsarbeit, (unter anderem) das Spielen bei der Band Shampoo Boy, Labelbetreiben (comfortzone) und fernsehjournalistische Beiträge (Okto) unter einen Hut (den sie nicht trägt) bringt, drei Jahre gesessen, gedacht und aufgenommen/produziert hat. Schon der Titel in seiner Zusammenziehung aus Meer und Monstern signalisiert, dass es bei den 10 dichten Tracks des Albums kaum um die sonnendurchfluteten Heiterkeiten des Lebens geht. Vicious Water Regimes, Let Sharks Sleep oder das abschließende Enge deuten schon mit den Titeln an, dass chra mit ihrem elektronischen Vokabular konzentriert daran interessiert ist und konsequent daran werkt, über Bedrohliches und Unterseitiges zu «reden». Was sich zu einem verstörten und verstörenden Teil-Soundtrack einer verstörten und verstörenden Welt verdichtet, dem aber gleichzeitig eine schwer zu fassende Schönheit innewohnt.

Let Sharks Sleep.

Christina Nemec umreißt SEAMONS beim Gespräch am Naschmarkt so: «Es geht um Wasser, Fließen, darum, wie antidemokratische Bewegungen entstehen und vergehen, wobei mir diese Themen durch die Abstraktionen auch immer wieder entglitten sind.» Ein auslösendes Erlebnis war ein Urlaub auf Lesbos, wo sie mit ihrem Partner Männer bemerkte, die sich den Strand entlangbewegten. Ihre Begleitung vermutete Arbeiter, sie meinte: «Schau noch einmal.» Hinter die Felsen geduckt waren Frauen und Kinder, wie die Männer geflüchtet, die Unglücklichen hatten ihre wenigen Habseligkeiten in Plastiksackerln und mieselsüchtigen Taschen, der Stacheldraht am Strand galt ihnen. «Du spendest, Du willst ein guter Mensch sein. Aber die sitzen immer noch dort.» Sie erzählt von einer Einladung nach Argentinien, untergebracht in Sichtweite eines Foltergefängnisses. Christina spricht von den durch Aussagen des Soldaten Adolfo Scilingo publik gewordenen «vuelos de la muerte», Todesflügen, bei denen Regimegegner_innen betäubt und nackt aus Flugzeugen in den Atlantik oder den Rio De La Plata geworfen wurden. «In Argentinien ist in beinahe jeder Familie jemand verschwunden. Das ist so brutal.»

Temperature.

«Ich liebe das Meer, kann aber überhaupt nicht schwimmen. Ich schwimme, wenn, dann nur im Stausee, wo ich stehen kann, ich habe Angst vor Wasser», umreißt die Musikerin eine weitere atmosphärische Grundströmung von SEAMONS. Cast(o)ro hat etwas mit Fidel Castro zu tun, Colonia Marina Serenella heißt wie eine italienische Einrichtung für Menschen mit Lungenproblemen, wo Christina als Kind Zeit verbrachte und die sie ungeplant bei einem Italienaufenthalt als Erwachsene noch einmal aufsuchte. Dabei müssen die Hörer_innen nicht zwingend auf die Kontexte stoßen, die in den Stücken und ihren Titeln stecken, so gesehen ist es eine sehr freie und assoziative Musik, die chra macht. Wenn die Stücke Titel bekommen – «dabei war bei SEAMONS das Buch Schiffsmeldungen von E. Annie Proulx eine weitere Inspiration» –, nähern sie sich der Fertigstellung, «dann werden sie geschliffen/editiert». Dabei macht Christina Nemec bei diesem Prozess alles allein, «mit Feedback kann ich dabei überhaupt nicht umgehen». Die Unsicherheit bleibt: «Das sind ja keine Popsongs, ich frage mich schon immer, ist das was, kann das was, wo funktioniert das …» Live arbeitet sie mit dem Ansatz «plug and play», verwendet ein möglichst simples Set-up, hat aber kein Interesse daran, SEAMONS live nachzubauen, stattdessen wird sie weiter mit Sequenzen, Loops und Frequenzen arbeiten, die sich auf dem Album finden, aber in neuen Verbindungen und Schichtungen. Bei der Erinnerung an ein Konzert in Mailand, von einem an elektronischer und experimenteller Musik interessieren Jesuitenpater kuratiert, gerät chra ob der Anlage und der Achtsamkeit des Publikums geradezu ins Schwärmen. Achtsamkeit ist nicht das schlechteste Stichwort in Zeiten von Corona, nach einer teils freiwilligen/teils unfreiwilligen Landiso­lation im Waldviertel genoss die Musikerin auch ein kurz vor dem Gespräch gespieltes Konzert unter freiem Himmel sehr, merkt dennoch an: «Das Corona macht schon viel mit uns.» SEAMONS auch, wenn mensch es lässt.

Chra: Seamons
(Editions Mego)
Live: 20.10., GrillX