Herr Groll auf Reisen 283. Folge
Groll und der Dozent eilten durch den Volksgarten. «Geschätzter Groll! Österreich stand am Wochenende nach Pfingsten im Banne der Stichwahl», sagte der Dozent. «Ganz Österreich? Nein, eine Vorarlberger Industriegemeinde tanzte aus der Reihe. In der Sechstausend-Seelen-Gemeinde Nenzing befinden sich drei große Metall- und kunststoffverarbeitende Betriebe, der größte, ein Betrieb der Liebherr-Gruppe mit tausendfünfhundert Beschäftigten produziert Schiffs- und Bohrinselkrane sowie Seilbagger. Ein anderer Betrieb stellt Aluminiumpressen her, ein dritter fertigt Reinigungsprodukte. Die Exportquote der drei Betriebe liegt bei fünfundneunzig Prozent, Hauptabnehmer ist die EU. Im Gemeinderat verfügt die FPÖ über die absolute Mehrheit. Ich frage Sie: Als ganz Österreich mit dem Showdown zwischen Van der Bellen und Hofer beschäftigt war – was trieb die Nenzinger um?»
Bild: Mario Lang
Bildtext: Auch an der Drina tummeln sich Fischotter
«Sie werden es mir gleich sagen.» Groll plagte sich über einen schmalen Kiesstreifen, lehnte aber mit einer Handbewegung die Hilfe seines Freundes ab.
Der Dozent fuhr fort: «Die Nenziger waren mit anderem beschäftigt, nämlich mit der Beseitigung der Spuren eines Blutbads.»
«Um Gotteswillen!», rief Groll. «Hoffentlich keine Auseinandersetzung mit Asylwerbern!»
Der Dozent erzählte, während sie den Ballhausplatz überquerten, weiter:
«In Nenzing haben sich die heimattreuen Österreicher untereinander massakriert, die USA lassen grüßen. Ein ansässiger Motorradclub feiert sein dreißigjähriges Bestehen. Frühmorgens eskaliert ein Beziehungsstreit, ein 27-jähriger Mann eilt nach Hause, kommt mit einem Sturmgewehr zurück, erschießt zwei Männer und verwundet weitere elf Personen zum Teil schwer. Danach schießt der Amokläufer sich in den Kopf. Am nächsten Tag erfährt man, dass der Täter aus der rechtsradikalen Szene stammte und eine einschlägige Vorstrafenliste aufwies.»
«Sicher kein Van-der-Bellen-Wähler», sagte Groll, als sie am «Café Kanzleramt» vorübereilten. «Es könnte sein, dass man in Nenzing die Zukunft studieren kann. Durchgeknallte Neonazis mischen sich unter die Leute, und wenn ein Streit entgleist, greift man zur automatischen Waffe und läuft Amok. By the way …» Groll hielt abrupt an. «Jetzt sehe ich die Auslassungen eines Waldviertler Wirts, dessen Gasthaus ich neulich aufsuchte, in einem neuen Licht.»
Der Dozent hockte sich auf die Fersen. «Erzählen Sie!»
«Der Mann hatte beim ersten Durchgang schwarz gewählt, so weit war alles der Papierform entsprechend. Dann aber bekannte er sich in unserem Gespräch zu Norbert Hofer und zwar mit skurrilen Argumenten. Aus zwei Hauptgründen könne er Van der Bellen nicht wählen. Der eine: die Grünen möchten Waffenbesitz in Privathand verbieten, und auf sein Gewehr verzichte er nicht um die Burg.»
«Dennoch wäre das Waffenverbot klug», sagte der Dozent, erhob sich und schüttelte die Beine aus. «Denken Sie an Nenzing! Mit einer Steinschleuder wäre der Amoklauf nicht geschehen.»
«Der zweite Grund aber ließ mich ratlos zurück.» Groll setzte den Rollstuhl wieder in Bewegung, sie bogen in den Kohlmarkt ein. «Er könne den Professor nicht wählen, weil die Grünen in seiner Gemeinde dagegen seien, dass Fischotter, die sich im Fischteich des Wirtes den Bauch vollschlagen, bejagt werden.»
«Da versagt jedes Argument», gab der Dozent zu.
Groll wich einem Radfahrer aus, der mit hohem Tempo durch die Fußgängerzone bolzte. «Dennoch sollten wir froh über den Wahlausgang sein. Wir wären andernfalls zum Gespött Europas geworden.»
Groll stimmte zu, wies aber daraufhin, dass er den Mann kenne, dem Van der Bellen den Wahlsieg verdanke. Der Mann sei er, Groll. Nur seinem unermüdlichen Einsatz in den Heurigenlokalen Floridsdorfs sei es zu verdanken, dass der Professor auch in den Wiener Außenbezirken erstaunlich gut abgeschnitten habe. Unzählige Gespräche und noch mehr Achtel Wein hätten eben ihre Wirkung getan. Er fordere daher von der Präsidentschaftskanzlei die Ausrichtung eines Dankfestes für ihn, Groll, auf dem Ballhausplatz. Lobredner sollten der Physiker Stephen Hawking, der Real-Madrid-Kicker Luka Modrić und der Vorsitzende der Blackfoot-Indianer im New Yorker Exil, Ezechiel Heavensgate, sein. Die Kosten sollten zu geteilten Handen von der GAZPROM und der Erzdiözese Wien getragen werden. Dazu könnten sich Unterstützer aus Zivilgesellschaft wie der Betreiber von «Widos Schmankerleck», dem vorzüglichen Bistro an der Rollfähre Korneuburg, gesellen. Im Übrigen sei diese Fähre das Einzige, was in diesem gespaltenen Land noch Ufer verbinden könne. «Denken Sie an die Wahlanfechtung! Der Verlierer kennt keine Scham.»
Sie passierten die Pestsäule am Graben. In den Schanigärten verfolgten die Gäste das Fußballspiel Österreich gegen Ungarn.