Das Ritual der BravenArtistin

Nicht alle finden die Liebesschlösser liebenswert

Soziale Disziplinierung:  die Gesamtheit aller Methoden, die Menschen so zuzurichten, bis sie die gesellschaftlichen Normen verinnerlicht haben. Aber was hat soziale Disziplinierung mit den in allen Städten der Welt auftauchenden Liebesschlössern zu tun? Text und Foto: Robert Sommer.

Ich beginne tief unten, bei einer Theorie der Sozialwissenschaften zu Ehe, Treue, Familie, Zweierbeziehung, sexueller Revolution … und ende ganz oben, bei konkreten Handlungen konkreter Menschen in den Städten, die wir kennen. Ich beginne mit einer Position, die die heterosexuelle, monogame Kleinfamilie zum Dreh-und Angelpunkt der Gesellschaft hochstilisiert hat. «Familismus» wird diese Fetischisierung von Familie, Monogamie und bürgerlicher Ehe genannt – ein in Österreich nicht gerade gängiger Terminus. Mithilfe des Schreckensbildes des «Aussterbens der Einheimischen» unternimmt die herrschende Politik zur Zeit die ideologische Anstrengung, via Neubewertung der Familie den demographischen Vorsprung der Alteingesessenen zu festigen. Man könnte von einer Instrumentalisierung der Institution «Ehe» für rassistische Zielsetzungen sprechen.

Unter diesem Aspekt sind die «Liebesschlösser», die auf manchen Brückengeländern unserer Metropolen wie Schwärme von Heavy-Metal-Schmetterlingen über öffentlichen Gewässern aller Genres hängen, die liebenswertesten, verführerischsten, unwiderstehlichsten Erscheinungsformen von Familismus. Was die meisten Schlüssel-in-den-Fluss-Werfer_innen naturgemäß anders sehen.

Urbaner Brauch

Lange Zeit empfand ich das Anbringen von sogenannten Liebesschlössern als sympathischen neuen urbanen Brauch, als eine sich rasch weltweit ausbreitende Mode, die durchaus in die positiven Äußerungen der Globalisierung einzureihen wäre. Weil diesem Boom keine parlamentarische Initiative zugrunde liegt und weil es sich um einen von unten her entwickelten und von oben teils tolerierten, teils bekämpften modernen Volksbrauch handelt, wird er oft in den Rahmen der Bewegung für die Aneignung der Städte, für die Eroberung des öffentlichen Raums gestellt. Bekämpft wird er, weil die alten Brücken die Belastung nicht aushalten.

«Soziale Disziplinierung» hieß das Thema einer Podiumsdiskussion, zu der ich von der Volkshochschule Alsergrund eingeladen worden war. Die Organisatorinnen erwarteten von einem Ex-Augustin-Redaktionsmitglied besondere Kompetenzen in der Wahrnehmung gängiger Methoden, unangepasste Menschen in zufrieden raunzende Staatsbürger_innen und in anständige Normopath_innen zu verwandeln. Die Organisatorinnen kannten das Engagement des Augustin gegen «Totale Institutionen» wie Gefängnis, Internat, Kaserne und Psychiatrie, die das System zur Disziplinierung der Untertanen geschaffen hatte. Mir war allerdings mehr nach schwankendem Boden zumute: Die Disziplinierungsfunktion von Schule oder Gefängnis als bekannt voraussetzend, wollte ich mich mit den subtilen, meist unbewussten Formen der Selbstdisziplinierung auseinandersetzen.

Die Idee, dem Liebesschlösser-Boom, über dessen Herkunft es übrigens einander widersprechende Informationen gibt, die Funktion der Selbstdisziplinierung umzuhängen, bezog ich aus künstlerischen Interventionen gegen den neuen Brauch. So hatte die Berliner Performerin Mey Lean Kronemann die künstlerische Disziplin des Lockpicking (Aufsperren von Schlössern ohne Schlüssel) auf die Liebesschlösser angewandt. Ihre Methode des Remix der Vorhängeschlösser wandte sie auch in Linz an: Dabei werden Liebesschlösser deplatziert und an beliebige andere Schlösser angeschlossen. Dadurch ändert sich die soziale Bedeutung des Schlösserschwarms: Aus einem romantischen Bekenntnis zu lebenslanger Treue wird eine Zustimmung zum gegenteiligen Zusammenlebenskonzept – zur Idee der Polyamorie, zur konkreten Utopie der pa­rallelen Liebesbeziehungen zu mehreren Menschen.

Bürgerliche Ehe

Vollends in das reaktionäre Eck hat die deutsche Künstler_innengruppe «Frankfurter Hauptschule» die Liebesschlösser-Mode gestellt. Es handle sich um konservative Street-Art, um eine unbestellte Kunst im öffentlichen Raum, die abzulehnen sei, weil sie das vom Staat einseitig forcierte Modell der lebenslangen Ehe zelebriere. Die «Frankfurter Hauptschule» kann sich dabei an einen Professor der Frankfurter Schule berufen, an Max Horkheimer, der den 68er-Rebell_innen erklärt hatte, warum es für das bestehende gesellschaftliche System so wichtig sei, alles zu unternehmen, um das Modell der bürgerlichen Familie zum allgemeinen Standard zu machen und andere Varianten der Fortpflanzung und des Zusammenlebens zu denunzieren: «In dieser familialen Situation, die für die Entwicklung des Kindes bestimmend ist, wird bereits die Autoritätsstruktur der Wirklichkeit außerhalb der Familie weitgehend vorweggenommen.» In der Institution der monogamen, patriarchalen bürgerlichen Ehe erfahre das Kind die erste Ausbildung für das bürgerliche Autoritätsverhältnis.

Dieser Zusammenhang von Liebesschlössern und autoritärer Gesellschaft mag zu dick aufgetragen sein; die «Frankfurter Hauptschule» sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, ihre Kritik sei nicht sonderlich originell und sie gönne den Kleinbürger_innen ihr spießiges Glück nicht. Den verliebten Paaren, die die Schlüssel ins Wasser werfen und dadurch übrigens – wenn es an einer bestimmten Stelle millionenfach passiert – das Gewässer vergiften, wird die Horkheimerei in diesem Moment in der Tat ziemlich wurscht sein.

In der Volkshochschule wurde meine Interpretation der Treueschlossmanie von den einen verworfen, von den anderen geteilt. Erstere meinten, der Brückenbrauch, der eines Tages sogar Pjöngjang erreichen werde, sei vergleichbar mit der Gepflogenheit, die Initialen der Geliebten samt Herz in Bäume zu ritzen. Eine spontane gemeinsame Handlung im Moment der leidenschaftlichen Zuneigung könne doch nicht zum Akt der Einübung in von oben gewünschte Werte «politisiert» werden. Der Einwand scheint vernünftig zu sein. Doch er lenkt ab von der Fragestellung, wie wir es mit einem Ritus halten sollen, der so cool daherkommt und doch ein Hoch auf das Konventionelle schreit.