Ein Ziegel zeitgenössischer KunstArtistin

Natalie Lettner hat Maria Lassnigs Leben geschrieben

Kisten voller Briefe, Tagebücher, Skizzen und Fotos. Der künstlerische und persönliche Nachlass von Maria Lassnig steht großteils in der Penzinger Gurkgasse. Natalie Lettner hat viele Monate damit verbracht, ihn zu einer grandiosen Biografie zu ordnen. Über ihre Arbeit hat sie mit Lisa Bolyos (Foto & Text) gesprochen.

In Salzburg aufgewachsen, nahm der Vater sie mit hinauf zur Festung und fragte: «Was fällt dir bei den Türmen auf, welcher ist hoch und welcher ist niedrig?» Das Rathaus war niedrig, die Kirchen hoch – und dieser Höhenunterschied erzählte ihr von den Machtverhältnissen in einer Stadt. «Das war etwas», sagt Natalie Lettner, «was mich auch an der Kunst- und Kulturgeschichte immer fasziniert hat: was sie über Machverhältnisse erzählt.»

Feminismus ist das Vernünftigste. Natalie Lettner arbeitet im Kunsthistorischen Museum. Sie ist dort in der Vermittlung tätig, schreibt Texte für die Audioguides, erzählt also Kontext, Hintergrund, bettet das, was die Besucher_innen zu sehen bekommen, in eine größere Geschichte ein. Sie ist dort «schon lange», seit sie nach Wien gezogen und damit ins kalte Wasser des Arbeitsmarkts gesprungen war. Im Hauptfach hatte sie eigentlich Literatur studiert, war drei Jahre im Toihaus-Theater Dramaturgin gewesen. Die Germanistik – und nicht die Kunstgeschichte, und schon gar nicht das davor noch erprobte Jusstudium – hatte ihr ein Umfeld geboten, in dem sie über sich hinauswachsen konnte. «Dort hab ich mich sehr wohl gefühlt», und sie erzählt, wie ihr die Literatur von Jelinek und Morgner nähergebracht und in feministischen Gruppen am selbstbewussten Sprechen gearbeitet wurde. «Natürlich hatten wir alle unterschiedliche Vorstellungen davon, was feministisch oder feministisch genug war, da gab es schon Reibungen. Aber das hat für mich nie grundsätzlich etwas in Frage gestellt.»

Mit dieser Vorgeschichte verwundert die Qualität der nun vorliegenden Lassnig-Biografie schon weniger. Vierhundert Seiten Kunstgeschichte, feministisch geschrieben, im Zentrum Maria Lassnig, die Malerin, Trickfilmerin, Kunstprofessorin – und rundherum die Welt. «Wie die Lassnig selber sagt: ‹Wenn man ein vernünftiger Mensch ist, ist Feminismus nicht zu vermeiden.›»

Respektvoll, aber nicht apologetisch. Wie ist Natalie Lettner dazu gekommen, Maria Lassnigs Geschichte zu schreiben? «Das ist fast ein bisschen peinlich, es war nämlich nicht meine Idee.» Elisabeth Stein, Verlegerin bei Brandstätter, hatte sie um Vorschläge für das Kunstprogramm des Verlags gebeten. «Ich habe gemeint, dass Biografien sicherlich gut gehen könnten, dass das Genre aber für mich als Autorin überhaupt nicht in Frage käme. Darauf hat sie gefragt: Und was ist mit der Maria Lassnig?» Da konnte Natalie Lettner dann doch nicht widerstehen; weil sie Lassnigs Kunst «immer schon großartig gefunden» hatte, und die Person Lassnig auch: «Was ist denn das für eine steile Frau?», habe sie sich 1992 gefragt, als sie in den ORF-«kunst-stücken» die «Lassnig-Kantate» sah. In einem siebeneinhalbminütigen teilanimierten Film erzählt Lassnig in ständig wechselnden, absurden Kostümen und in generösem Versmaß ihr ganzes Leben, ihre Erfolge, ihr Können, aber vor allem ihre Unzulänglichkeiten. «Das hat mir sehr viel über ihre Widersprüchlichkeit gesagt, und darüber, dass sie Charakter hat, dass sie eine facettenreiche und erzählbare Figur ist.»

Eines hat jedoch alle Begeisterung für Lassnig nicht bewirkt: den Wunsch, apologetisch zu sein. «Das ist nicht meine Art, weder bei mir noch bei anderen.» Das heißt nicht, dass Lettner lieblos mit ihrem «main character» umgeht, sie ist ja die Erste, die so kategorisch das viele Material durchforstet, die ordnend in gefüllte Kisten eingreift, die Tagebücher und Briefe liest, um daraus zu zitieren und Schlüsse zu ziehen. «Das ist durchaus etwas sehr Intimes», sagt sie, da braucht es genügend Respekt. Aber alles muss auch die respektvolle Biografin nicht nachsehen: vor allem nicht die verstörende Gleichgültigkeit gegenüber dem NS-Regime, wie sie sich an der Wiener Kunstakademie breitmachte. Nein, sie teile nicht «das Bedürfnis mancher Journalisten», Lassnig zu einer Widerständigen umzuschreiben.

Das prä- und das postmoderne Böse. Bevor sich Natalie Lettner auf das Leben einer Anderen eingelassen hatte, war sie mit dem Bösen beschäftigt. In ihrem Buch «Bilder des Bösen? Teufel, Schlange und Monster in der zeitgenössischen Kunst», in dem das Werk von Künstler_innen wie Katharina Fritsch, Cindy Sherman oder Tony Oursler untersucht wird, blickt sie auf Kontinuitäten «zwischen den alten Meistern und der zeitgenössischen Kunst, weil oft so getan wird, als hätten die beiden überhaupt nichts miteinander zu tun». Ideologische Konstrukte des Bösen, die sich in der prämodernen Ikonografie finden, kann man aber, so Lettner, nicht einfach ablegen, indem man mit scheinbarer Ironie darauf verweist. «Wenn man den Teufel evoziert, dann evoziert man eben auch den Teufel.» Als Beispiel nennt sie Jonathan Meese, «der so gerne mit Tabus spielt und Hitler, Stalin, Klaus Kinski alle in einem Atemzug nennt. Dann wird gesagt: Das muss man einfach nur ironisch verstehen; aber meines Erachtens spielt da eine große Faszination mit, die mit jener in prämodernen Bildern durchaus vergleichbar ist.»

Die Art, wie im postmodernden Diskurs mit dem Begriff der Ironie hantiert werde, sei ohnehin viel zu schwammig, findet sie, und watscht die ganze Postmoderne als antiaufklärerisch ab; aber hat sie auch einen Beitrag geleistet? Ja, hat sie. «Der Moment, in dem wir sagen, wir dekonstruieren alles, ist erst einmal ein interessanter. Da gab es sehr wichtige Erkenntnisse, aus denen aber, wenn sie bis zum Exzess betrieben werden, der totale Relativismus folgt.» Neben Meese gilt ihr auch die Arbeit von Dinos und Jake Chapman als Beispiel: «Die Chapmans fordern die Prinzipien der Aufklärung und der Moderne heraus, stellen alte Gut-Böse-Schemata in Frage. NS-Symbolik wird als ‹Superzeichen› des Bösen eingesetzt, Hakenkreuz und ‹deutscher Gruß› werden mit Pferdefuß und Teufelshörnern gleichgesetzt und erfüllen dieselbe dämonisierende Funktion.» In ihrer Arbeit «Hell» koppeln die Chapman-Brüder ein NS-Vernichtungslager mit der christlichen Höllenvorstellung: «Sowohl ihre Teufel als auch deren Opfer tragen Hakenkreuzbinden und Stahlhelme. Sie versuchen zu entlarven, dass Folterbilder auch voyeuristische Gefühle auslösen können. Indem sie gleichzeitig den Gegensatz zwischen Opfern und Tätern aufbrechen, verunmöglichen sie es der Betrachterin und dem Betrachter, sich gemütlich zurückzulehnen und sich mit den Opfern zu identifizieren.» Das Problem, das Lettner bei allem Respekt für die Arbeiten sieht, ist «ein sehr ahistorischer, letztendlich verharmlosender und zynischer Blick», und das Risiko, «dass Aufklärungskritik in antiaufklärerisches Ressentiment umschlägt». Eine Gefahr, die schwer zu vermeiden sei, sobald man mit der Faszination des Bösen spiele.

Viele Kisten, ungeordnet. Kehren wir zurück zur Faszination für Maria Lassnig. Zwischen der Anfrage des Verlags und dem fertigen Druckprodukt sind mehr als zwei Jahre vergangen. Am Anfang war nur das Material der Klagenfurter Galerie Hildebrand zugänglich, vor allem Briefe von Lassnig aus Paris und New York. Noch vor ihrem Tod hat Maria Lassnig aber gemeinsam mit einer Gruppe von Vertrauten, darunter ihr ehemaliger Schüler Hans Werner Poschauko, eine Stiftung gegründet, die ihren Nachlass verwalten würde. Die ist in Lassnigs Atelierräumen in der Penzinger Gurkgasse untergebracht.

Einen ganzen nervösen Sommer lang blieb unklar, ob Lettner Zugang zum Archiv der Stiftung bekommen würde. Achtzig Seiten Treatment habe sie abgegeben als Beleg, dass sie kompetent sei, das Leben der Meisterin in Worte zu fassen – obwohl sie die nie kennengelernt hatte. Als der Zugang zum Archiv schließlich geklärt war, was fand sich da? «Viele Kisten, ungeordnet.» Und darin ein Konvolut an Tagebüchern, Briefen, «so Schulheftln, in die sie Filmideen notiert hat», Plakate, Einladungen, Fotos, per Hand beantwortete Interviews, überhaupt viel Handschriftliches, was bedeutet, «dass man nicht einfach mit Suchbefehl etwas wiederfinden kann». In zeitaufwendiger Arbeit hat Lettner die Informationen nach und nach Kapiteln zugeordnet. Ihre Arbeitstage wurden immer länger, und noch jetzt, sagt sie, sei sie ein bisschen erschöpft, obwohl das Buch seit einem halben Jahr abgeschlossen ist.

Ob nach dieser Erfahrung das Genre Biografie ein weiteres Mal in Frage kommt? Prinzipiell ja, aber das Bedürfnis, sich gleich wieder so intensiv auf ein anderes Leben einzulassen, ist definitiv noch nicht da. Erst einmal ist jetzt die Zeit, den «Ziegel», wie Natalie Lettner die fertige Biografie zufrieden nennt, seinen Leser_innen zu überlassen.

 

Maria Lassnig auf vierhundert Seiten – Zeichnen, wie es die Narren tun

«Bin mein ganzes Leben beschäftigt, mein Selbstvertrauen durch Malerei zu erlangen», steht auf der blau gefärbten Schnittkante des Buches. Durch dieses «ganze Leben» führt die Kunsthistorikerin Natalie Lettner auf 400 Seiten – chronologisch und an einzelnen Stationen weit ausholend. Man erfährt von der Mutter, die sich Sorgen um ihre «sonderliche Tochter» machte, die nichts als zeichnen und den Stift dabei «abnormal» halten würde, «gekrümmt, wie das die Narren tun». Von der Aufnahme an der Kunstakademie, diesem nationalsozialistischen Mikrokosmos in Wien und der Abwendung von naturalistischen Brauntönen hin zu dem Türkis, Rosa und Grün ihrer berühmtesten Leinwandarbeiten. Von der Zeit in New York liest man, und wieso Arnulf Rainer Angst hatte, allein zur U-Bahn zu gehen. Und von der Zeit in Paris und Berlin und den Freundschaften und Konkurrenzen zu Künstler_innen um sie herum. Von Eitelkeiten, großen und späten Erfolgen und dem ständigen Gefühl, doch nicht ernst genug genommen zu werden. Von Galerien und Galerist_innen, von Partnern, die – siehe Oswald Wiener – ihrer Schnurstracksheit nicht gewachsen waren. Natalie Lettner schreibt zeitgenössische österreichische Kunstgeschichte mit internationalen Auswüchsen, in deren Zentrum die Malerin und Trickfilmerin Lassnig (1919–2014) unangefochten steht. Zwischen zwei Buchdeckel packt die Autorin mit dieser ersten vollständigen Lassnig-Biografie ein Archiv und ein Nachschlagwerk, das dem Anspruch populärer Wissenschaft im besten Sinne gerecht wird: präzise und voller Erkenntnisse und dabei Leseunterhaltung auf hohem Niveau.

 

Natalie Lettner:

Maria Lassnig.

Die Biografie

Brandstätter 2017 400 Seiten

29,90 Euro

 

Stiftung: marialassnig.org

Ausstellung:

Maria Lassnig

Zeichnungen und Aquarelle

bis 27. August

Albertina, 1., Albertinaplatz 1