Das Verlernen der Gewalttun & lassen

Gewalttaten in der Familie sind im Steigen begriffen. Um das zu ändern, reicht kein schnell geschnürtes Maßnahmenpaket. Vielmehr muss eine Gesellschaft sich darum kümmern, dass ihre Kinder ohne Gewalt aufwachsen.

Text: Lisa Bolyos
Fotos: Mario Lang, Lisa Bolyos

Die Zahl der Morde an Frauen – und zwar jener, die an Menschen wegen ihrer gesellschaftlichen Rolle als Frauen begangen werden und damit als Femizide gelten – steigt in Österreich. Mit ihr steigt die mediale und politische Aufmerksamkeit. «Es ist eine Schande, dass erst Frauen sterben müssen, damit die Thematik der familiären Gewalt in der Politik wahrgenommen wird», sagt Holger Eich, klinischer Psychologe und Leiter des Wiener Kinderschutzzentrums. Er ist skeptisch, «inwieweit diese Aufmerksamkeit ernsthaft und dauerhaft sein wird – oder eher nur eine flotte Ablenkung, um die Gemüter kurzfristig zu beruhigen.» Patriarchale Gewalt ist eben auch kein Problem, das «mit einem Bündel von Maßnahmen gelöst werden kann», meint Birgitt Haller, wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Konfliktforschung (IfK). «Da muss eine ganze Gesellschaft verändert werden.» Wer dabei besondere Aufmerksamkeit braucht, sind die Kinder.

Das gekränkte Patriarchat.

Femizide finden häufig in Trennungsphasen statt. Eine, wie Rafaela Siegenthaler im Interview auf den nächsten Seiten betont, «für Frauen sehr gefährliche Zeit». Männer in patriarchalen Gesellschaften sind also tendenziell so wenig befähigt, mit Kränkung und Verlust umzugehen, dass ihnen ein Mord näherliegend erscheinen kann, als mit dem Schmerz einer Trennung zu leben. «Das ist ungeheuerlich», findet Holger Eich. Bei der aktuellen Häufung von Femiziden spiele der Lockdown zwar sicher eine Rolle, «aber zentral ist, dass gerade Männer in besonderen Situationen, vor allem wenn eine Frau sich von ihnen trennen will, dies als einen solchen Angriff auf ihr Ego erleben, dass sie mit Mord reagieren. Das spricht wiederum dafür, dass Buben, Burschen und Männer nicht gelernt haben, Frustrationen, Enttäuschungen, Zurückweisungen auf eine sozial kompatible Art zu verarbeiten.»
Das Problem sei ein zu enges Bild von Männlichkeit und der Stress, es zu erfüllen, sagt Philipp Leeb, Obmann des Vereins Poika. «Es geht ums eigene Selbstbewusstsein, um den Stellenwert, den ich mir gebe. Woher beziehe ich meine Geltung in der Gesellschaft? Durch einen Arbeitsplatz? Dann ist die nächste Frage, womit ich kompensiere, wenn mir der abhanden kommt. Und das geschieht oft durch sexistische oder rassistische Abwertung von anderen.»

Soziale Kompetenz statt Latein.

«Protect the girls? Educate the boys!», steht auf einer Hauswand im 6. Bezirk. Es genügt nicht, über den Schutz von Mädchen und Frauen zu sprechen – Männer und Buben müssen Verantwortung für ihre Rolle übernehmen. Philipp Leeb, selbst Sonderpädagoge, weiß, wie komplex dieses «Educate the boys» in der Praxis ist. Poika bietet Workshops für Burschen an, in denen es um Vorstellungen von Männlichkeit und auch um Gewaltprävention geht. «Es braucht ein Umdenken von erwachsenen Vorbildern darüber, wie sie als Männer auftreten. Das Lehrpersonal in den Schulen muss mit Genderkompetenz ausgestattet werden. Das heißt etwa, dass man Kinder unabhängig von ihrem Geschlecht zu betrachten lernt und nicht mit Stereotypen von schlimm und brav, von leistungsstark und leistungsschwach auf sie zugeht.» Aber auch die psychosoziale Unterstützung an Schulen müsse ausgebaut werden und externe Bildungsarbeit, wie Poika sie anbietet, brauche genug finanzielle Ausstattung, um Workshops für Schulen gratis anbieten zu können. Ein ganzes Bildungspaket also. Birgitt Haller vom IfK sieht das ähnlich: «Man muss schon bei Kindern mit der Geschlechtergerechtigkeit ansetzen. Denn ohne die wird sich nichts an der Gewalttätigkeit von Männern ändern.» Im Lernen von sozialer Kompetenz geht es für Kinder – egal ob Buben oder nicht – darum, selbst nicht gewalttätig zu werden, aber auch darum, Gewalt erkennen und benennen zu können. «Ein Kind mag spüren, dass etwas unrecht ist und ihr oder ihm nicht gut tut», sagt Holger Eich vom Kinderschutzzentrum, «es muss aber erst lernen, dass Gewalt – in welcher Form auch immer – schädlich und verboten ist. Ich wünsch mir, dass in Schulen weniger Latein gelehrt wird und mehr sozial kompatibler Umgang geübt wird. Nicht erst, wenn ‹etwas passiert› ist, sondern als Grundbaustein zivilisatorischer Bildung im Lehrplan.»

Wie Kinder weiterleben.

Die Betroffenheit von Kindern durch Gewalt in der Familie liegt auf der Hand, und dennoch kommen ihre Perspektive und ihre Not in der öffentlichen Debatte zu kurz. Bei tödlichen Gewalttaten an Frauen, die Kinder haben, verlieren die Kinder beide Eltern, betont Holger Eich, denn auch der Vater als Täter sei für die Kinder nicht mehr verfügbar. «Das Weiterleben betroffener Kinder ist eine Herausforderung. Von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr wie vorher. Und nichts kontrollier- oder umkehrbar.» Im Versuch der Kinder, mit der Situation umzugehen, könne man geschlechtsspezifisch unterschiedliche Reaktionen beobachten: «Sie sind in der Situation, dass sie Kind eines Opfers und gleichzeitig auch Kind eines Mörders sind. In dieser Zerrissenheit neigen sie dazu, sich mit einer der Rollen zu identifizieren.» Eine zentrale Frage nach dem unwiederbringlichen Verlust ist, bei wem die Kinder nun aufwachsen. «Die häufigste Variante ist, dass sie bei Großeltern untergebracht werden. Aber diese sind die Eltern von Opfern oder Mördern. Die Kinder sind dem ausgesetzt, wie diese Großeltern die Tat einschätzen – ob etwa die Eltern des Mörders sich damit auseinandersetzen, was das Verhalten ihres Sohnes bedeutet und was auch sie als Erziehende des späteren Täters damit zu tun haben.» Oft geben Kinder sich selbst die Schuld, sagt Eich: «Die Idee, sie hätten etwas anders machen müssen – dann wäre die Tat nicht passiert. Das sind realitätsfremde Illusionen, aber sie geistern in den Köpfen der Kinder. Sie vermitteln ein Gefühl von Kontrolle und haben daher auch eine Funktion. Sie müssen aber korrigiert werden, um die Kinder zu entlasten.»
Selten treten die Kinder selbst in Kontakt mit dem Kinderschutzzentrum, meist sind es unterstützende Erwachsene, denen dann dabei geholfen wird, das Kind weiter zu unterstützen. «Wichtig ist uns, dass nichts über den Kopf des Kindes hinweg passieren soll. Allein die Erfahrung, mit den eigenen Wünschen und Ängsten ernst genommen zu werden, ist für die Kinder schon heilsam.»

Einmischen kann Leben retten.

«Betroffene Kinder senden Signale aus», sagt Holger Eich. «Einige ziehen sich eher zurück, wirken lust- und freudlos oder traurig. Andere werden selbst aggressiv, quälen andere Kinder oder verletzen sich selbst.» Diese Signale müssen angesprochen werden. «Wir müssen uns trauen zu fragen: Ist was mit dir? Möchtest du über was reden? Geschieht etwas mit dir, was dir Sorgen macht?» Man dürfe nicht erwarten, ein Kind könne sich daraufhin sofort öffnen. «Aber: Das Kind hat verstanden, dass es, wenn es so weit ist, darüber zu reden, eine_n Ansprechpartner_in gibt. Die Signale sind angekommen.»
Sich den Mut zur solidarischen Einmischung aneignen, ist eine zentrale gesellschaftliche Leistung. Sie bedeutet die Überwindung der gut gepflegten Idee, Gewalt sei Privatsache. Die Ini­tiative StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt (s. folgende Seiten) setzt genau darauf: Menschen sollen lernen, einzuschreiten, wenn sie Gewalt in der Nachbarschaft mitbekommen; Zivilcourage ist Übungssache. «Es geht ums Hinhorchen und Hinschauen», sagt Birgitt Haller. «Was die Polizei mit dem Gewaltschutzgesetz schon verstanden hat, muss die Gesellschaft erst nachlernen: Gewalt im privaten ist das Gleiche wie Gewalt im nicht-privaten Raum. Man ist aufgefordert, sie zu unterbrechen. Das kann Leben retten.» Natürlich hat man dabei mit eigenen Ängsten zu kämpfen. Und es ist auch schlicht unangenehm, wenn man brüsk zurechtgewiesen wird: «Das geht Sie nix an!» Das sagen die Polizistinnen, die man fragt, warum sie den Straßenmusiker einkreisen. Das sagt die Frau in der Straßenbahn, die man ersucht, ihr Kind nicht so anzubrüllen. Das sagt der Mann in der Nachbarwohnung, dem man zu verstehen gibt, dass er respektvoll zu seiner Partnerin sein soll. Es ist eine sehr wirksame Waffe, zu behaupten, man hätte die Definitionsmacht darüber, was wen was angeht und wo wer mitreden darf. Eine Waffe, die von der Kleinfamilie bis in die mächtigsten Institutionen allein zu dem Zweck gepflegt wird, sich Kritik vom Leib zu halten.
Es gibt aber auch ermutigende Versionen der gleichen Geschichte. Eine Bekannte erzählte folgende Anekdote: In der U-Bahn kam sie gegenüber einem Mann und einer Frau zu sitzen, die offensichtlich in Partnerschaft lebten. Der Mann machte die Frau in einem fort verbal nieder. Sie setzte sich nicht zu Wehr, duckte sich weg, genierte sich vielleicht, hatte sich womöglich über Jahre oder Jahrzehnte angewöhnt, den Sturm vorüberziehen zu lassen. Die Bekannte mischte sich ein. Sie sagte zu der Frau: «Wissen Sie was? Sie haben sich wirklich was Besseres verdient.» Und zu ihrer (und Ihrer!) Überraschung antwortete die Frau: «Da haben Sie eigentlich Recht», und stieg bei der nächsten Station ohne ihren Mann aus. 

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