Der Algorithmus und die Arbeitskrafttun & lassen

Seit Jahresanfang ist der AMS-Algorithmus im Einsatz. Mit hoher Fehlerquote errechnet er Chancen und Pflichten am deregulierten Arbeitsmarkt.

Text: Barbara Eder
Foto: Carolina Frank

Zu früheren Zeiten war der Gang zum Arbeitsamt noch vergleichbar mit dem Besuch bei einer guten, alten Tante: Man musste sie nicht lieben, um regelmäßig vorbeizukommen, führte dann aber ein gutes Gespräch bei einem Gläschen Likör. Tante Arbeitsamt freute sich über die Visiten, denn sie war nicht mehr die Jüngste und oft einsam. Zu Beginn der Siebziger hatten sozialistische Parteien europaweit das Sagen und Tantchen wenig zu tun. Vollbeschäftigung war ein Ziel der Achse Kreisky-Palme-Brandt und die Quote der Arbeitssuchenden so gering, dass die Amtsstuben meist leer blieben. Gut ein Jahrzehnt später änderte sich das fundamental: 1987 näherte sich die österreichische Erwerbslosenquote erstmals der 6-Prozent-Marke – ein willkommener Anlass für erste Strukturreformen einer Nachkriegsinstitution, die während des Nationalsozialismus von der «Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung» in das der allgemeinen Staatsverwaltung unterstehende «Reichsarbeitsministerium» überführt worden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Arbeitslosen­unterstützung und Sozialhilfe entkoppelt, die entscheidende Zäsur fand in Österreich jedoch 1994 statt: Noch unter dem Kabinett Vranitzky IV wurde das Arbeitsamt aus dem Sozialministerium ausgegliedert und auf Geheiß von Günther Steinbach zum modernen Dienstleistungsunternehmen mit eigenen Rechtsstatuten.

Vom Sozialministerium zum Service­center.

«Früher war alles ziellos und wurde von der Politik gesteuert. Im besten Fall hat man Zettel mit Angeboten aufgehängt», bejubelte der konservative Ex-AMS-Vorstand Herbert Böhm einst die vom politischen Kontrahenten mit dem kalten Lächeln eines Verfassungsjuristen durchgeführte Reform. Seither empfängt das AMS seine «Kund_innen» nicht mehr mit einem Gläschen Likör, es offeriert ein «Rundum-Paket», das Talentanalyse, Coaching, Schulungen und persönliche Betreuung beinhalten soll. Die Betreuungstermine beschränken sich jedoch auf weniger als eine Viertelstunde, auf das Speed-Dating erfolgt die Online-Registrierung auf dem elektronischen Konto eAMS. Für Martin Kocher, Verhaltensökonom und nunmehriger Bundesminister für Arbeit, haben individuelle Maßnahmenzuteilungen schon lange ausgedient. Stattdessen müssen Erwerbslose, die vom AMS Geld beziehen oder dort als arbeitssuchend registriert sind, knallhart fit gemacht werden – durch Zwangsverpflichtungen bei oft staatsnahen Ertüchtigungsfirmen, ausgerichtet an den Erfordernissen eines flexibilisierten Arbeitsmarktes. Diesem ist es bekanntermaßen egal, ob die 6.000 Arbeiter_innen für die Brandenburger Gigafactory von Elon Musk aus Polen einpendeln oder aus Tschechien – die Arbeitsämter sichern den technokratischen «Machern» der Gegenwart «Manpower» zu, politisch geht man vor ihnen in die Knie wie ein Zögling vor dem Beichtvater.

Der Staat und der Markt.

Arbeit ist Stoffwechsel mit der Natur – und damit ein menschliches Grundbedürfnis; dass sie zur Ware werden muss, ist damit noch nicht gesagt. Bis in die 2000er-Jahre gab es selbst innerhalb des AMS Programme, die den Wert von Arbeit nicht an Industrieprofiten, Jobgarantien oder quantifizierbaren Leistungen bemaßen. Menschen mit Behinderung oder solchen, die frisch von der Universität kamen, haben sie den Stoffwechsel mit der Natur wenigstens zeitweise ermöglicht, kleinen Vereinen und NGOs oft sogar das Leben gerettet. Im Nachhinein wirken längerfristige «Akademikertrainings» und «Arbeitsbeschäftigungsmaßnahmen» nahezu legendär, für die Verantwortlichen an den Schalthebeln des AMS gelten sie jedoch als Marktverzerrungen. Sie haben die Glaubenssätze aus Friedrich August von Hayeks The Road to Serfdom tief internalisiert und predigen seither, dass der Staat nur mehr die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen freien Markt garantieren solle. Dementsprechend groß ist auch der Widerstand, den die türkis-grüne Regierung staatlichen Beschäftigungsprogrammen entgegenbringt – so auch einer coronabedingt notwendigen «Aktion 40.000», um die sich, sollte es sie jemals geben, in paternalistischer Manier auch Erwerbslose unter 50 bewerben dürfen. Staatsangestellten hat dieselbe Regierung noch nie Marktversagen vorgeworfen, intern organisiert sie ihren Arbeitsmarkt ohnedies anders: «Kriegst eh alles, was du willst», beteuerte Kanzler Kurz zuletzt gegenüber dem ehemaligen Generalsekretär im Finanzministerium, Thomas Schmid, der sich erneut zum Chef der Staats­holding ÖBAG küren lassen hätte wollen. Ein Chat­protokoll ist ihm dazwischengekommen.

Von eAMS zu AMAS.

Die Einrichtung einer allgemeinen Arbeitslosenversicherung zählt zu einer der bedeutendsten gewerkschaftlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts und zeigt, wie wichtig politische Eingriffe in Arbeitsmarktverhältnisse sind. Dieser Tage gerät selbst dies ins Wanken – wer sich AMS-Maßnahmen nicht fügt, verliert mit der Bezugsberechtigung auch seine Versicherung, eine immer größer werdende Schar an Selbstständigen kann sich die Beiträge für die Allgemeine Sozialversicherung (SVS) gar nicht erst leisten. Man könnte sich fragen, ob die Welt jene App-Entwickler_innen wirklich benötigt, die das AMS so obsessiv adressiert, man könnte errechnen, ob ihre Produkte zum tatsächlichen Bedarf einer Volkswirtschaft beitragen; um diesen zu erheben, setzte Salvador Allende im Chile der frühen Siebziger auf die algorithmengesteuerte Erhebung von Produktionsdaten, im Österreich der Gegenwart teilt eine Software Erwerbslose in drei Kategorien ein. Das sogenannte Arbeitsmarktchancen-Assistenz-Modell (AMAS) der Firma Synthesis ist trotz erheblicher Widerstände seit Jahresanfang im Einsatz, aufgrund offensiver Diskriminierung – neben Menschen mit Handicap bekommen Frauen mit Kindern aufgrund von Betreuungspflichten Punkteabzug, Männer nicht – hat die Gleichbehandlungsanwaltschaft im letzten Jahr ebenso geklagt wie die oberste Datenschutzbehörde wegen mangelnder DSGVO-Konformität; dennoch erfolgt die interne AMS-Klassifikation derzeit mittels AMAS-Punktescore, Betreuer_innen können den Wert nachträglich korrigieren, wurden über diese Möglichkeit aber ebenso unzureichend informiert wie die Erwerbslosen über ihr Scoring selbst.

20 Prozent Fehlerquote.

Die AMS-weite Einführung von AMAS bewirkt nicht etwa eine Objektivierung von Arbeitsmarktchancen, vielmehr handelt es sich dabei um ein sozialstatistisches Instrumenta­rium zur Anpassung an einen deregulierten Arbeitsmarkt. Anstatt ihn staatlich zu regulieren oder anzuerkennen, dass Sockel­arbeitslosigkeit längst zum Grundprinzip seines Funktionierens zählt, errechnet AMAS die je individuelle «Integrationschance». Gemeint ist damit die Wahrscheinlichkeit, in den verbliebenen Branchen Dienstleistung oder Produktion über kurz oder lang ein Normalerwerbsverhältnis aufzunehmen, die Vergabe von Förderungen ist daran geknüpft. Korreliert werden von AMAS unter anderem Variablen wie Geschlecht, Alter, Staatsbürgerschaft, Erwerbsverlauf und regionales Arbeitsmarktgeschehen, sie werden mit Modellschätzungen aus einem von IBM verwalteten Data Warehouse abgeglichen. Die Firma Synthesis spricht mit Blick auf die eigene Software von einer Fehlerquote von 20 Prozent, Statistiker_innen misstrauen dem finalen Zahlenwert allein aufgrund der Vielzahl an korrelierten Variablen. Anstatt der dadurch vorangetriebenen sozialen Exklusion entgegenzuwirken und über ein bedingungsloses Grundeinkommen nachzudenken, stellen AMS-Chef Kopf und Arbeitsminister Kocher die Optimierung ihres Instruments in Aussicht, während die NGO epicenter.works Hilfestellungen bei algorithmischen Fehlzuordnungen anbietet. Der jüngste Vorschlag von WKO- und Wirtschaftsbundchef Harald Mahrer, das Arbeitslosengeld mit zunehmender Verbleibdauer im AMS degressiv zu staffeln – also immer weniger auszuzahlen –, ist nur ein logischer nächster Schritt. Die gute, alte Tante Arbeitsamt sieht ihm dabei gelassen zu. Sie wurde schon Mitte der Neunziger in Frühpension geschickt.