Das Wiener Panoptikumvorstadt

Auf den Spuren des Garnisongerichts am Hernalser Gürtel:

Michel Foucault hat die perfide Erfindung des Herrn Bentham als Grundprinzip der Disziplinargesellschaft erkannt. Realisiert wurde sie auch in Wien, was Anton Tantner feststellen musste.

Wer auf Google Maps das Polizeianhaltezentrum Wien am Hernalser Gürtel heranzoomt und die Satellitenansicht aktiviert, wird im zur Breitenfelder Gasse gelegenen Innenhof einen halbkreisförmigen Rundbau erkennen. Vor etwas mehr als einem Jahr fragte mich ein Kollege, ob es sich dabei etwa um ein «karzerales Panoptikum» handeln könnte, und ich machte mich auf die Recherche.
Zunächst aber einmal: Was ist überhaupt ein Panoptikum? Es handelt sich dabei um eine architektonische Anordnung, die die effiziente Überwachung einer Vielzahl von Menschen ermöglichen soll, ganz gleich, ob es sich um Schüler_innen, Fabriksarbeiter_innen, Kranke oder Gefangene handelt. Ersonnen wurde sie ab 1787 von Jeremy Bent­ham, einem berüchtigten Philosophen und Sozialreformer, für den seine Zeitgenossen keine freundlichen Worte übrig hatten. Goethe bezeichnete ihn 1830 etwa als «radikalen Narrn», bei Karl Marx firmiert er im Kapital als «Genie in der bürgerlichen Dummheit».

Die Überwachungsphantasie hat sich durchgesetzt.

Knapp mehr als 100 Jahre nach Marx sah sich der französische Philosoph Michel Foucault gezwungen, den britischen Philister ernst zu nehmen, hatte sich doch inzwischen das Prinzip der von ihm konzipierten Überwachungsphantasie dank allgegenwärtiger Kameraüberwachung, Zeiterfassung und Rasterfahndung weltweit durchgesetzt.
Benthams Panoptikum (im Original: Panopticon) sollte als kreisförmiges Gebäude angelegt werden, in dessen Mitte sich eine Art Wachturm («Inspector’s Lodge») befand, rund um den durch eine Freifläche abgetrennt kreisförmig auf sechs Etagen die Zellen der Insass_innen angeordnet waren; letztere – seien es Sträflinge, Kranke oder Arbeiter_innen – waren voneinander strikt abgetrennt, und auch die Loge des Aufsehers war ihnen nicht einsichtig, während letzterer vom Zentrum aus «jeden Winkel der Zelle» ausspähen konnte. Die Insass_innen wussten somit nicht, ob sie nun tatsächlich kontrolliert wurden oder ob der Platz in der Mitte leer war, sollten aber den Eindruck haben, jederzeit unter Beobachtung zu stehen; eine solche «scheinbare Allgegenwart eines Aufsehers» hatte auch religiöse Implikationen, die Bentham durchaus bewusst waren, und es war auch daran gedacht, von der zentralen Loge aus Messen zu zelebrieren, auf dass die Gefangenen für den Gottesdienst nicht ihre Zellen zu verlassen brauchten.

Modische Gefängnisse.

Bentham selber war nicht erfolgreich damit, seinen Plan finanziert zu bekommen, das panoptische Prinzip ließ sich aber fortan bei der Anlage von Gefängnissen wiederholt nachweisen und hatte auch Einfluss auf den Stä­d­tebau: So konzipierte etwa der Architekt Claude-Nicolas Ledoux die Salinensiedlung Chaux als kreisförmige Idealstadt, in deren Mittelpunkt sich ein «Temple du surveillance», ein Überwachungstempel befand. Was die Gefängnisse anbelangt, so brauchte es einige Zeit, bis sich die «panoptische englische Mode» (so spitze Stimmen aus Frankreich) tatsächlich materialisierte, erleichtert durch den Einsatz moderner Baustoffe wie Stahl und Glas zur Realisierung der aufwändigen Dachkonstruktionen. In den Niederlanden wurden etwa ab 1880 Gefängnisse in Arnheim, Breda und Haarlem nach diesem Prinzip errichtet, Berühmtheit erlangten nach dem Ersten Weltkrieg das ­Illinois State Penitentiary in Stateville, USA, sowie das kubanische Presidio Modelo, dessen prominentester Gefangener Fidel Castro war, heute ein Museum, gelegen auf der Isla de la Juventud.

Zweifelhafter Ruhm.

Wie sah es nun aber in Wien aus, wo unter der Bezeichnung «Panoptikum» allenfalls Wachsfiguren, monströse anatomische Präparate und Menschen aus fernen Ländern einem sensationsgierigen, rassistischen Blick zur Schau gestellt wurden? Gewiss, der 1784 am Gelände des Allgemeinen Krankenhauses fertiggestellte «Narrenturm» ist ein Rundbau, kann aber nicht als Panoptikum durchgehen (das weiß auch der einschlägige Wikipedia-Eintrag), und somit lohnt es sich, dem unseligen Bau am Hernalser Gürtel nachzuspüren, der erst unlängst mediale Aufmerksamkeit bekam, als Schubhäftlinge ihre Zelle anzündeten, was prompt die übliche Hetze des Boulevards nach sich zog.
Architekten des ab 1906 als Garnisongericht erbauten Gebäudes waren Johann Emanuel Snietiwy und Max Ott, und tatsächlich, die Reichspost wusste in ihrer Ausgabe vom 2. Oktober 1907 zu berichten, dass der halbkreisförmige Anbau im Hof Einzelzellen «nach dem Panoptikumsystem» beherbergen sollte.
Ein nach der Fertigstellung publizierter Bericht in der Wiener Bauindustrie Zeitung sollte dies noch präzisieren: Demnach seien die insgesamt 50 Arresträume auf fünf Stockwerke verteilt und von balkonartigen Korridoren aus zugänglich. Wie im Original-Panoptikum gab es also einen freien, durch alle Stockwerke reichenden Zwischenraum, der von einem Oberlicht erhellt wurde. Somit kann sich auch Wien des zweifelhaften Ruhms erfreuen, eine – wenn auch abgespeckte – Ausführung eines Panoptikums zu beherbergen.

In der nächsten Ausgabe behandelt Anton Tantner das ehemalige Zuchthaus in der Leopoldstadt, das sich am heutigen Karmelitermarkt befunden hat.