Den Krieg austrocknentun & lassen

Zwar verkündet Deutschland großzügig Asyl für Kriegsverweigerer:innen aus Russland, doch die Gesetzeslage lässt den versprochenen Schutz nicht zu. Rudi Friedrich vom Verein Connection e. V. will sich nicht damit abfinden.

TEXT: ANNE BROCKMANN

Es ist die übliche Geschäftigkeit, die sich am 8. Dezember auf der Berliner Prachtstraße ­Unter den Linden zeigt. Es nieselt und eine dichte Wolkendecke hüllt den Feier­tag in Grau. Es ist nicht so viel los. Bis ­jemand gegenüber der Hausnummer 78 eine unscheinbare zylindrische Tasche auf dem Kopfsteinpflaster ­abstellt. Das Haus beherbergt die Vertretung der Euro­päischen Kommission in Deutschland. Die blaue Tasche beginnt ­plötzlich, sich langsam zu ­bewegen, es wächst ­etwas aus ihr heraus. Eine undefinierbare Gestalt reckt sich mehr und mehr dem wolkenverhangenen Himmel entgegen. Erste Passant:innen bleiben ­stehen und ­schauen gespannt zu. Eine Pumpe bläst Luft in die Figur. Nach ­wenigen Minuten ist das Rätsel gelüftet. Zwei kraftstrotzende, nach oben ­gestreckte Arme kommen zum Vorschein. Ihre ­Hände ­umklammern die Hälften ­eines zerbrochenen Gewehrs. Waffen können schießen. Menschenhände können sie zum Schweigen bringen, Menschenhände können so viel mehr. So oder so ähnlich könnte die Botschaft lauten, die die aufgeblasene Figur vermitteln möchte.
Hinter dem Schauspiel steckt der 59-jährige Rudi Friedrich von ­Connection e. V. Der von ihm ­gegründete Verein setzt sich seit 30 Jahren für Wehrdienstverweigerer:innen auf der ganzen Welt ein. Zusammen mit Friedens- und Menschenrechtsorganisationen demonstriert er an diesem Dezember-Vormittag in Berlin vor der Vertretung der Europäischen Kommission für Schutz und Asyl für Deserteur:innen und Kriegsdienstverweigerer:innen aus Russland, Belarus und der Ukraine. Auch für Frauen. Zumal in der ukrainischen wie auch in der russischen Armee ­Frauen als Freiwillige Wehrdienst leisten, und selbst dann ihre Überzeugung ändern können.

Leere Versprechen.

Aber hat die ­deutsche Bundesregierung den Schutz für Betroffene nicht längst großzügig proklamiert? In Form von Bundesinnenministerin Nancy Faeser zum Beispiel? Als sie ­sagte: «Wer sich dem Regime von Präsident Wladimir Putin mutig entgegenstellt und deshalb in größte Gefahr begibt, kann in Deutschland wegen politischer Verfolgung Asyl beantragen.» Oder in Form von Bundesjustizminister Marco Buschmann, als er auf Twitter schrieb: «Wer Putins Weg hasst und die liberale Demokratie liebt, ist uns in Deutschland herzlich willkommen.»
Rudi Friedrich findet, «das ist gut ­gemeint, aber schlecht gemacht». Denn die Gesetzeslage im Land lässt den versprochenen Schutz für alle gar nicht zu. Menschen, die dem Krieg abschwören, werden unterschiedlichen Gruppen zuge­ordnet – je nachdem, wann und auf welche Weise sie ihre Entscheidung umsetzen. Die Gruppen sind klar definiert und ihre Chancen auf Schutz und Asyl höchst unterschiedlich. Wer als russischer Militärdienstpflichtiger ­bereits eine Einberufung erhalten hat und sich gegen den Krieg wendet, gilt als ­Deserteur. ­Desertion gilt nicht nur in Russland als Straftat und kann als solche verfolgt werden. In Deutschland gelten Deserteur:innen damit wiederum als politisch Verfolgte und haben vergleichsweise gute Chancen auf Schutz. Allein: Einen Asylantrag kann in Deutschland nur stellen, wer sich bereits im Land ­befindet. Der Weg ist für sie nur illegal zu bestreiten, denn als Angehörige der Armee ist ihnen die Ausreise untersagt. Wer noch keine Einberufung erhalten hat, kann vorsorglich beantragen, den Kriegsdienst zu verweigern und stattdessen einen alternativen Dienst zu leisten. Allerdings sitzen in den russischen Entscheidungsgremien an wichtigen Stellen nicht selten Militärs, sodass fraglich ist, ob Antragsverfahren in der Praxis rechtens ablaufen.
Wer vorausschauend besonders früh das Land verlassen hat – etwa gleich zu Beginn des Jahres 2022 –, ist auf legalem Weg außer Landes gereist und hat damit auch keinen Nachweis über ­seine Flucht. Asyl zu bekommen, ist für die Besag­ten beinahe unmöglich – obwohl sie den Regelungen der Teilmobilmachung unterlägen, sobald sie nach Russland zurückkehrten.
«Asylanträge können nur im Zufluchtsland und nicht aus dem Ausland gestellt werden. Visa für die Einreise werden aber kaum erteilt, weil man eine nicht fristgerechte Ausreise befürchtet. Und die Flugverbindungen sind noch dazu ­gekappt. Bei aller Bekundung der Solidarität: Schutz und Asyl sind da kaum möglich», fasst Rudi Friedrich die vertrackte Situation zusammen. Die meisten Geflüchteten würden sich daher gar nicht erst in Richtung Westeuropa orien­tieren, sondern in die Nachbarstaaten reisen – nach Armenien, Georgien, Litauen, ­Kasachstan und in die Türkei zum Beispiel. In den genannten Ländern besteht keine Visapflicht oder Visa sind verhältnismäßig leicht zu bekommen. Sicher sind die Geflüchteten dort aber längst nicht. Denn Armenien und die Türkei stehen Russland politisch sehr nahe.

Internationale Vernetzung.

Wie Rudi Friedrich Betroffene unterstützt, sagt schon der Name seiner Organisation: «Wir stellen Verbindungen her. Wenn wir einen Anruf oder eine E-Mail ­erhalten, schauen wir uns das einzelne Schicksal genau an und haben im besten Fall einen passenden Kontakt in dem Land parat, in dem sich die Person ­gerade befindet und in das sie vorhat zu gehen.» Der Verein, der in Offenbach in der Nähe von Frankfurt am Main sitzt, ist gut vernetzt. Er kennt Aktivist:innen und Gruppen in den entlegensten Winkeln, die ein realistisches Bild der ­Situation vor Ort haben und Möglichkeiten sowie Grenzen kennen. Connection e. V. unterstützt diese Verbündeten auch finanziell. Einer der wenigen Fälle, in denen es gelungen ist, ein Visum für Deutschland zu bekommen und dort nach Einreise einen Asylantrag zu stellen, ist der eines russischen Männermodels, berichtet Friedrich: «Der junge Mann ist bei einer Agentur unter Vertrag, die ihren Hauptsitz in Berlin hat. Dadurch konnte er ein Arbeitsvisum ­bekommen und kann nun längerfristig in Deutschland bleiben.»
Rudi Friedrich selbst hat 1983 in Deutschland den Kriegsdienst verweigert. Und auch wenn er die damalige ­Situation dort nicht mit der heutigen in Russland vergleichen möchte, kritisiert er so manche Tücken, mit denen er konfrontiert war. «Das Grundgesetz sieht eine Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen vor. Das Gewissen wird in diesem Verfahren suggestiv auf die Probe gestellt. Ich ­erinnere mich an Fragen wie ­diese: ‹Stellen Sie sich vor, Sie sind mit Ihrer Freundin im Park unterwegs und ­haben ein Maschinengewehr dabei. Plötzlich­werden Sie überfallen. Was machen Sie?›»,­erinnert er sich. Ehe er den haupt­amtlichen Vorstandsvorsitz von Connection e. V. übernahm, hat er eine ­Berufsausbildung zum Maurer und ein Studium der Soziologie absolviert. Ihm und allen anderen 200 Mitgliedern von Connection e. V. ist der Wert der Unparteilichkeit besonders wichtig. «Wir unterstützen alle auf allen Seiten. Im Vordergrund steht für uns die Entscheidung gegen den Krieg – aus welchen Gründen auch immer. Denn wenn immer weniger Menschen sich am Krieg beteiligen, wird ihm die ­Grundlage entzogen, dann trocknet er aus», stellt Friedrich klar.

Respekt statt Vorwürfe.

Die widerstän­dige Haltung gegen Geflüchtete aus Russland nach der Teilmobilmachung im vergangenen September kann er nicht verstehen. Vielerorts war zu ­lesen und hören, dass diejenigen, die daraufhin das Land verlassen haben, eigentlich Befürworter:innen des Krieges sind, die jetzt lediglich um ihr eigenes ­Leben fürchten. Wären sie regierungskritisch, wären sie schon früher gegangen. «Auf solche Aussagen reagiere ich gern mit einer Frage. ‹Unter welchen Bedingungen treffen Sie selbst lebensverändernde Entscheidungen?› Braucht es nicht oft einen großen Druck?» Aus ­seinen ­Gesprächen mit den Betroffenen weiß er, dass viele die Entscheidung, ihr Land zu verlassen, als einen gravierenden Einschnitt empfinden, von dem sie nicht wissen, welche Folgen er ­haben wird. «Sie lassen Familie, ­Freunde, ­Beruf, Sprache, Kultur und Routine ­zurück. Das fällt sehr, sehr schwer – auch wenn das eigene Leben in Gefahr ist – und verdient Respekt, nicht Vorwürfe», findet Friedrich. Viele berichten ihm von ­Bekannten, Freund:innen oder Familienmitgliedern, die sie im jeweils anderen Land haben. Oft gibt es auch in der eigenen Lebensgeschichte längere Aufenthalte dort – für ein Studium zum Beispiel. «Von diesen Menschen höre ich ganz klar: ‹Ich will nicht in den Krieg. Ich kann das nicht!›», erzählt Friedrich.
Wie der jüngste Krieg in Europa zu einem Ende kommen kann, das macht auch Friedrich ratlos. Er weiß es nicht. Im Moment hält er eher eine Beteiligung von Belarus für wahrscheinlich. «Wir von Connection e. V. haben natürlich auch nicht für jedes politische Problem eine Alternative. Aber Krieg bedeutet zunächst hauptsächlich Zerstörung und eine Militarisierung der Gesellschaft», betont Rudi Friedrich. Daher sei es «unbedingt notwendig, Mittel und Wege ­gegen die Fortführung des Krieges außerhalb der militärischen Kriegslogik zu finden».

Bildbeschreibung: Berlin, am 8. Dezember 2022: In einem Schreiben fordert Rudi Friedrich von Connection e. V. die Europäische Kommission auf, die Grenzen für Kriegsverweigerer:innen aus Russland, Belarus und der Ukraine zu öffnen (Foto: Hendrik Haßel)

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