Der Coup der Landlordstun & lassen

Aus dem Pakistan-Journal einer österreichischen NGO-Mitarbeiterin

Der Rückgang des Medieninteresses an der Hochwasserkatastrophe in Pakistan, die 14 bis 20 Millionen Menschen obdachlos machte, suggeriert einen Normalisierungsprozess. Das Gegenteil ist der Fall.Die Flut steigt weiter an, und was sich normalisiert, ist bloß die Reaktion des Mainstream-Journalismus: Pakistan ist out; den Konkurrenzkampf um Quoten und Reichweiten gewinnt heute der, der das Sensationellste zu Sarrazin und Kampusch konstruiert. In dieser Situation hielten wir es für notwendig, eine Auswahl der «Rundbriefe» der österreichischen NGO-Aktivistin Claudia Villani zu publizieren. Im Rahmen von Ruth Pfaus Lepra-Projekt «Marie Adelaide Leprosy Centre» (MALC) arbeitet die Österreicherin mit den Rechtlosesten unter den Flutopfern, etwa in einem Camp für «illegale» afghanische Flüchtlinge.

Karachi, Juli 2010

Es ist unerträglich heiß. Die höchste gemessene Temperatur dieses Sommers war 49 Grad. Wir sind alle sehr langsam. Im Krankenhaus von MALC gibt es immer Strom, da es einen Notaggregator hat. Wir können also unseren Ventilator benutzen. In der Stadt Karachi gibt es oft stundenlang keinen Strom. Ruth Pfau ist in den letzten Wochen langsamer und stiller geworden. Wenn es gar nicht mehr geht, legt sie sich nieder und schläft. Sie sagt, an diese Hitze werde sie sich nie gewöhnen dabei ist sie nun schon 5 Jahre in Pakistan. Im Afghan Camp sind 85.000 Menschen ohne Wasser und Strom. Wir sind nur mehr zu dritt im Team. Genau am Geburtstag meines Sohnes Jakob wird mir ein völlig ausgehungertes Kind gebracht. Es ist sieben Monate alt. Es wiegt 3,40 Kilo. Genau dieses Gewicht hatte auch Jakob. Aber nach der Geburt, nicht nach sieben Monaten! Sie sind beide Kinder Gottes. Nur auf verschiedenen Plätzen dieser Welt geboren.

Leprosy is under control, das stimmt, doch die Umstände, in denen viele Menschen mit Lepra leben müssen, sind unvorstellbar. Da die meisten Leprakranken an den befallenen Körperteilen keine Empfindungen mehr haben, merken sie dort keine Entzündungen. So beginnt dieser furchtbare Kreislauf der offenen Wunden. Die Ratten kommen. Sie befallen die Patienten in der Nacht und fressen an den offenen Stellen. Sogar wir hier im Krankenhaus haben dieses Problem.

3. August 2010

Gestern um 19 Uhr ist ein wichtiger Führer der MQM (radikale politische Partei) erschossenen worden. Ich bin auf einer Geburtstagsfeier. Um 19.10 Uhr erhalten wir einen Anruf von Mr. Lobo. Wir sollten sofort versuchen, ins Krankenhaus zurückzukommen. In einer halben Stunde herrsche in der Stadt Kriegszustand. Alle wissen hier, was es bedeudet, wenn die MQM Rache nimmt. Binnen zehn Minuten werden alle Läden geschlossen, die Lichter gehen aus. Die Straßen sind völlig verstopft. Alle wissen, sie müssen so schnell wie möglich nach Hause. Wir stehen im Stau. Immer wieder versucht unser Fahrer auszubrechen und über eine Nebenfahrbahn weiter zu kommen. Neben, vor, hinter uns Menschen, die dasselbe versuchen. Noch sind Frauen in den Rikschas zu sehen. Kinder auf dem Schoß. Überall Angst. Demonstrationen beginnen. Der Hass auf den Gesichtern ist eindeutig. Ich vergrabe mich unter meinem Schleier. Versuche nur ganz vorsichtig zu atmen, wie in der kindlichen Vorstellung: Wenn ich mich ganz klein mache und nicht atme, dann sieht mich niemand. Auf den Kreuzungen stehen alle, in allen Richtungen. Noch steht ein Polizist in der Mitte und versucht das Unmögliche. Ich sehe noch, wie er tätlich angegriffen wird. Noch zwei Straßen, und wir sind da. Menschen treten gegen unser Auto. Nicht absichtlich, alles gerät außer Kontrolle. Bald erfahren wir, dass es schon 94 Tote gibt. Männer der MQM-Partei befehlen uns in der Nacht, wir sollen alle Lichter ausmachen. Dem Hotel in unserer Straße sagen sie das auch. Als es nicht Folge leistet, wird auf alle Beleuchtungen geschossen.

Afghan Camp. Ich fahre trotz Hitze ins field. Ein Kind im Arm. 10 Monate, 4 Kilo.

Es weint leise und verzweifelt vor sich hin. Es hat bereits mentale und physische Behinderungen. Es hat Hunger und ich nehme an, vor allem Durst. Ich verstehe die Situation nicht. Das Kind ist seit 4 Monaten auf dem Ernährungs-Programm. Was ist los? Warum wird das Kind nicht gefüttert? Die Familie bekommt 14-tägig Kitcheri von uns, daraus kann sie doch Brei machen? Also fahre ich zu ihnen «nach Hause», um zuzuschauen, wie sie Kitcheri kochen und das Kind füttern. So der Plan. Ich muss erfahren: Der Mann ist vor 5 Monaten gestorben. Die Mutter ist nun allein mit ihren fünf Kindern. Der älteste Sohn ist 12 Jahre alt, ist jetzt verantwortlich, die Familie zu ernähren. Er geht Mist sammeln. Schafft 20 bis 40 Rupies am Tag, das sind 20 bis 40 Cent. Wasser ist eine Ware. 10 Liter 5 Cent. Ich schaue zu, wie die Mutter kocht. Das Baby wimmert auf meinem Arm. Die anderen Kinder stehen um mich herum. Mit großen, gebrochenen Augen schauen sie mich an. Die Mutter fragt mich, ob ich das Baby nicht haben wolle. Ob ich es nicht mitnehmen könne. Ich weiß, wenn ich damit beginne, bringen mir morgen hunderte Menschen ihre Kinder (vor allem behinderte Kinder) in die Klinik.

Im Bericht über diese Familie finde ich den Begriff, die Mutter habe das Kitcheri-Programm «missused», da sie das Essen an die anderen Kinder weitergegeben habe. Und die Frage, ob die Familie nun vom feeding programme zu streichen sei. Wer von uns würde das Kitcheri NICHT an die anderen Kinder verfüttern!

11. August 2010

Die zwei wichtigsten Fernsehkanäle sind eben verboten worden, weil sie kritisch berichtet haben. Das Land versinkt im Elend, die Politiker kümmern sich noch immer um ihr eigenes Ansehen, und die Taliban nützen diese Not aus. Sie sagen den Menschen, diese Katastrophe sei eine Strafe Gottes, weil das Volk zu wenig auf sie höre.

Dr. Ruth Pfau sagt: Act as normal as possible. Reagiere so normal, wie es nur geht. Keine Panik aufkommen lassen. Einen Schritt nach dem anderen. Weiter arbeiten.

Als eine über ganz Pakistan verbreitete Organisation (MALC hat 180 Außenstellen der Leprakontrolle) können wir sofort reagieren. Es gibt einen Bericht von unserer Mitarbeiterin Fateh, der mir so nahe geht, dass ich gegen die innere Lähmung ankämpfen muss, die mich ergriffen hat. Die Flut, das Wasser kommt so rasch, dass du deine Kinder auf den Arm nehmen und irgendwie versuchen musst, zu fliehen. Oft müssen Mütter zusehen, wie die eigenen Kinder ertrinken, weil sie nur zwei, meistens die Kleinsten, tragen können. Die anderen Kinder, die ihrerseits wieder Geschwister tragen, verschwinden vor den Augen der Mütter im Wasser.

So was wie Rettungsboote gibt es hier nicht. Und es kann kaum jemand schwimmen. Woher auch.

Wir sind alle sehr still hier im Krankenhaus. Versuchen, Prioritäten zu setzen und besonnen weiterzuarbeiten. Ich sehe Frauen verstohlen weinen. Die gesamte Ernte Pakistans ist vernichtet. Die Preise steigen ins nicht mehr Leistbare. Die meisten unserer Angestellten essen nur mehr Brot zu Hause. Es jammert niemand. Und doch sehe ich im Moment so viele hoffnungslose Augen. Ich schreibe euch heute nichts von der politischen Situation, außer, dass das Militär den Befehl hat: SHOOT AT SIGHT. Das heißt, es darf schießen, auf wen immer es dies als nötig erachtet. Damit ist offiziell der Rechtsstaat aufgehoben.

20. August 2010

Eure gelebte Solidarität ist uns allen große Hilfe. Wir kaufen Nahrungsmittel, Wasser, Zelte. Tausende und Abertausende erreichen täglich Karachi. Im Laufe der nächsten Wochen rechnen wir mit 10 Millionen Menschen. Es hat keinen Sinn, daran zu denken, was das heißen wird. Wir müssen das Heute irgendwie schaffen. Gestern habe ich eine Frau getroffen, die Ihr Baby nicht fest genug halten konnte, als die Sturzflut kam. Das Kind wurde augenblicklich vom Wasser verschluckt. In den Augen der Mutter ist noch immer dieses furchtbare Entsetzen zu sehen. Ich will diesen Blick nicht vergessen.

Noch nie habe ich so existenzielles Teilen wie hier in den Dörfern erlebt. Die Menschen kennen einander nicht einmal, sprechen manchmal nicht einmal dieselbe Sprache. Und doch ist es selbstverständlich, dass man Obdachlosen Herberge gibt.

Die Preise hier in Karachi sind für Grundnahrungsmittel um 400 Prozent gestiegen. Ich habe mich noch extra erkundigt und nachgerechnet, ob diese unfassliche Zahl auch wirklich stimmt. Ja, es ist so. An die Auswirkungen wagt hier niemand zu denken. Oder was das z. B. für «mein» Afghan Camp heißen wird. Die Kinder sterben dort doch jetzt schon an den Folgen der Unterernährung! Hoffen wider alle Hoffnung.

26. August 2010

EIN KIND IST GEBOREN. Heute um 12.30 Uhr karachi time. In unserem flood camp in Kamisagoth. Keine Gewichtsangabe möglich (und auch nicht üblich). Ein kräftiger, bezaubernder Kerl. Mutter und Kind wohl auf. Die Mutter bedankt sich, dass wir ihr Leben und das Leben ihres Kindes gerettet haben. Das Team ist aufgeregt und in bester Stimmung. UNS ist ein Kind geboren. Schlimmere Lebensumstände kann ich mir für ein Kind kaum vorstellen, und doch ist dieses Kind so voller Leben, so voller Hoffnung für uns alle.

30. August 2010

Ich bin so betroffen, so verzweifelt, so fassungslos. Seit heute steht es endgültig fest:

50 PROZENT DER ÜBERFLUTUNGEN HÄTTEN NICHT STATTGEFUNDEN, WENN NICHT GROSSGRUNDBESITZER (LANDLORDS) DÄMME KÜNSTLICH HÄTTEN SPRENGEN LASSEN, UM DAS WASSER SO ABZULEITEN, DASS IHRE BESITZTÜMER NICHT GEFÄHRDET WERDEN.

Das heißt: Die gebauten Abflussmöglichkeiten konnten nicht wirksam werden, da das Wasser einen völlig anderen, gewaltsamen Kurs genommen hat. Das heißt, Menschen wurden vom Wasser überrascht, die nie damit rechnen konnten, da sie wussten, dass sie normalerweise durch das Wasser des Indus nicht gefährdet sind. Das heißt, es sind jetzt vor allem Anbaugebiete der armen Bevölkerung überflutet, die vom Wasser ohne die Manipulationen der Landlords nicht berührt worden wären.

Das heißt, jedes zweite Kind, das ich jetzt hungrig oder sterbend in einem Camp in den Händen halte, hätte nicht hier sein müssen. Natürlich hätte niemand diese Naturkatastrophe aufhalten können. Mindestens aber 50 Prozent sind nachweislich «made by human beings». Das ist kriminell, kein anderes Wort passt. Diese Landlords haben Millionen Menschen auf dem Gewissen. Profit gegen Menschenleben.

Heute beim Abendessen sagt Dr. Pfau, nun habe sie wirklich Angst. Diese Tatsachen werden die Menschen z. B in Baluchistan, die von der Flut gar nicht betroffen gewesen seien, wenn die Großgrundbesitzer in Sind nicht die Dämme gebrochen hätten, nicht vergessen. Sie werden Rache nehmen. In mir tobt es. Jetzt wird es sich zeigen, ob ich Christin bin. Ob ich bereit bin, auch in meinem Herzen auf Gewalt zu verzichten. Augustinus hilft mir mit einer Aussage: «Vor der wahren Gelassenheit kommt der gerechte Zorn.» Ich will daran glauben, dass das Gute im Menschen gewinnen wird. Alleine ist mir das nicht mehr möglich. Da brauche ich eure Solidarität und vor allem Gottes Hilfe, um meine ohnmächtige Verzweiflung in Liebe zu verwandeln.

6. September 2010

In einigen europäischen Medien ist zu lesen, dass es ein «Gerücht» gebe, dass sich 50 Prozent der Flutschäden hätten verhüten lassen

Die Wahrheit ist …?

In einer in der Regel zuverlässigen Zeitung steht heute, dass die Bevölkerung einen Großgrundbesitzer davon abgehalten habe, den Damm zu durchstechen, denn damit wäre die ganze Stadt Badin in Gefahr gewesen, überschwemmt zu werden. Ein Loch im Damm wird ja dann von den Fluten vergrößert, bis das Wasser sturzflutartig sich dadurch verbreitet. «Dawn», so heißt diese Zeitung, kann man auch im Internet lesen. Und die zweite Meldung: Es dürfen keine Gerichtsverfahren angestrengt werden, um die Dammbrüche zu überprüfen, «weil die Regierung so viel zu tun hat, die Flüchtlinge zu versorgen».