Der einsame Kampf mit dem Eisenvorstadt

Gewichtheben war einmal eine populäre Sache, die in Wirtshäusern ausgetragen wurde. In der Zwischenzeit hat dieser Sport an Breitenwirkung eingebüßt. Von den Handvoll Gewichtheber_innenvereinen, die es heute noch in Wien gibt, ist ein einziger in Favoriten übrig­geblieben: der FAK Goliath.

Text und Fotos: Wenzel Müller

Langsam kehrt Leben ins Pfarrheim am Antonsplatz in Wien-Favoriten zurück. Oben können nach dem Corona-bedingten Lockdown die Pfadfinder_innengruppen wieder zusammenkommen, und unten im Keller, hinter der orangen Tür, hat der Gewichtheber_innenverein FAK Goliath wieder seinen Betrieb aufgenommen.
An der Decke Neonleuchten, am Boden eine selbst gezimmerte Holzbühne. Und an den Wänden das Arbeitsgerät, Hanteln, dazu aufsteckbare Scheiben. Direkt darüber eine sich über die gesamte Wandbreite hinziehende Vitrine, vollgestellt mit Pokalen.
Die stolze Trophäensammlung lässt keinen Zweifel daran: Wir haben es hier mit einem Traditionsverein zu tun. In der Tat besteht der FAK Goliath schon seit 1923. Auch wenn nun bald das 100-Jahr-Jubiläum ansteht, zu feiern besteht wenig Anlass. Die glorreichen Zeiten sind vorbei. In den 1920er-Jahren gab es allein in Favoriten 22 Gewichtheber_innenvereine, von denen allein der FAK Goliath übriggeblieben ist.
Obmann Kurt Kern ist ein ruhiger, besonnener Mensch. Doch als er davon erzählt, wie sie früher, vor rund 20, 30 Jahren, ihre Wettkämpfe in Wirtshäusern ausgetragen haben, geht ihm geradezu das Herz über. Wunderschön sei das gewesen. Unten die Zuschauer, die es sich bei Schnitzel und Bier gut gehen ließen. Und oben auf der Bühne sie, die Gewichtheber, die von den Zuschauern nach Kräften angefeuert wurden. Abstandsregel war noch ein Fremdwort, und geraucht wurde, was das Zeug hielt. So nah waren die Athleten den Zuschauern, dass deren Bierfahne direkt in ihre Nasen stieg. Diese Gemengelage aus Rauch und Bier, Schweiß und Fleisch sorgte jedes Mal nicht nur für gute Stimmung, sondern auch dafür, dass die Athleten jeweils über sich hinausgingen. Hier stemmten sie zuverlässig mehr Gewicht als im Training.
Vorbei ist es mit der Hetz. Der Sport, der einmal in der Mitte der Gesellschaft, zumindest des Wirtshauses, war, befindet sich nun an dessen Rand. In einem Gotteshaus. Bis 1986 trainierten die Goliath-Athlet_innen im Arbeiterheim Favoriten, dann mussten sie ausziehen und fanden eben in dem Pfarrheim ein neues Zuhause. Der damalige Pfarrer hatte ein gutes Herz und offenbar keinerlei Vorurteile.
Gewichtheber sind reine Kraftlackel, mit nichts in der Birne. So lautet etwa ein Vorurteil. Widerlegt wird es von Cristina Cojanu-Latschenberger, eine der wenigen Gewichtheber_innen, die zum heutigen Training erschienen ist. Sie, aus Rumänien stammend, hat in London in Kunst promoviert.
Auf dem Boden eine Hantel, hinter der Cojanu-Latschenberger Aufstellung genommen hat. Langsam beugt sie sich nach unten, den Rücken gerade gestreckt, umgreift erst mit der einen, dann mit der anderen Hand die Stange. Sie lässt sich alle Zeit, ist hoch konzentriert, noch einmal Luft holen, Luft in die Lungen pumpen, und dann wuchtet sie in einer geradezu explosionsartigen Bewegung das Eisen nach oben, über sich. Sie geht tief in die Hocke, positioniert sich genau unter dem Gewicht und richtet sich dann langsam auf. Mit Erfolg, nach dem «Zug» klappt auch das «Tauchen»: Sie steht aufrecht und hält die Hantel mit ausgestreckten Armen in die Höhe.
Reißen heißt diese Form des Gewichthebens. Die andere Stoßen: Sie erfolgt quasi in zwei Phasen, erst wird die Hantel zum Oberkörper gebracht und dann, nach einer Verschnaufpause, von dort über den Kopf, in der Regel mit Hilfe eines Ausfallschritts. Diese zwei Disziplinen kennt das olympische Gewichtheben, so die exakte Bezeichnung dieses Sports.
Wo Lai_innen einen einzigen Kraftakt ausmachen, sprechen Fachleute von der Koordination unzähliger kleiner Bewegungsabläufe. Und der Fachmann ist hier Philipp Latschenberger, der Ehemann der Sportlerin. Während sie trainiert, passt er auf ihre beiden kleinen Kinder auf.
Gewichtheben, erklärt Philipp Latschenberger, sei praktisch Ganzkörpertraining. Jeder Muskel, jede Körperpartie komme dabei zum Einsatz. Natürlich sei Kraft wichtig, doch mehr noch Technik, die Beherrschung des eigenen Körpers. Man müsse die Stange so in die Höhe drücken, dass die Kraft nicht allein aus den Armen, sondern aus dem ganzen Körper, namentlich seinen stärksten Partien, komme. So gesehen könnte man vielleicht diesen Sport als Yoga mit Gewichten bezeichnen.
Für Anfänger_innen steht eine einfache Holzstange bereit. Ich selbst könnte einmal diese Übung ausprobieren: Die Stange über dem Kopf halten und dann langsam in die Hocke gehen. Was soll daran schwierig sein? Ich schreite entschlossen zum Sportgerät: Meine Hände greifen breit, die Finger umfassen den Daumen, soweit mache ich alles richtig. Mein weiterer Auftritt währt dann allerdings nur wenige Sekunden. Denn kaum bin etwas in die Knie gegangen, komme ich auch schon ins Straucheln. Ich drohe auf den Hintern zu plumpsen, daher breche ich umgehend dieses Unterfangen ab. Gewichtheben ist eine der ältesten Sportarten – und gewiss auch eine der unterschätztesten.
Cojanu-Latschenberger arbeitet sonst mit dem Pinsel, sie ist Malerin. Ob sich die Arbeit im Atelier nicht sehr von der hier im Trainingsraum unterscheide? Nein, hier wie dort versuche sie ihrem Körper zu sagen, was der zu machen habe – und dies jeweils mit mäßigem Erfolg. Der Körper mache einfach, was er wolle, sagt sie und lacht.
Beharrlichkeit, das muss die Gewichtheberin, der Gewichtheber an den Tag legen. Im Training immer wieder der gleiche Bewegungsablauf. Wenig Abwechslung. Keine Strategie muss eingeübt, kein Gegenüber studiert werden. Denn die Gegnerin bleibt immer die gleiche: mensch selbst. Immer ist es ein einsamer Kampf mit dem Eisen. Cojanu-Latschenbergers Rekord liegt bei 61 kg (Reißen) und 81 kg (Stoßen).
Hier in dem Trainingsraum gibt es auch eine Küche. Die kommt bei Wettkämpfen zum Einsatz, dann brutzeln die Schnitzel in den Pfannen, spritzt das Fett und füllt sich der Raum mit stickiger Luft. Genauso wie einstens in den Wirtshäusern. Das Publikum soll sich wohl fühlen, ganz nach der Devise: Geht es dem Publikum gut, geht es auch den Athlet_innen gut. Zuletzt mussten die Wettkämpfe hier unten im Keller Corona-bedingt abgesagt werden, doch nach dem Sommer sollen sie wieder steigen. Und dann ist garantiert Hetz im Pfarrheim. 

www.fak-goliath.at