Der Musterfriedhof von Kagranvorstadt

Der Geheimtipp unter den Friedhöfen Wiens: nur einmal im Monat geöffnet und doch mit U-Bahn-Anschluss.

Text & Foto: Anton Tantner

Sie kennen schon alle Friedhöfe Wiens? Sind während des Corona-Lockdowns unbehelligt von strafwütigen Polizist_innen alle Ecken des Zentralfriedhofs abgegangen und haben von den Anhöhen des Dornbacher Friedhofs sehnsüchtig auf den verwaisten Sportclub-Platz geschaut, voller Groll gegen jene Ministerin, die den Wiener_innen die Bundesgärten zusperrte? Die alljährlich vor Allerseelen aufpoppenden Artikel über den Friedhof der Namenlosen entlocken Ihnen nur mehr ein müdes, wissendes Lächeln und erinnern Sie allenfalls wehmütig an das dort einst gelegene, selige Gasthaus zum Friedhof der Namenlosen? – Dann wird es Zeit, den wohl unbekanntesten der Wiener Friedhöfe aufzusuchen, den Musterfriedhof.
Ein Musterfriedhof? Zum Probeliegen? Als Anregung für die private Gartengestaltung, wenn sich in Zeiten der Pandemie keine Leichenüberführung mehr organisieren lässt? Musterfriedhof, so steht es tatsächlich geschrieben auf einem Hinweisschild ganz in der Nähe der U1-Station Kagran, das nur erblickt, wer den von mehreren Seiten aus zugänglichen Schulgarten der MA 42 aufsucht.

Ein faszinierendes Universum.

Dieser Schulgarten ist ein faszinierendes Universum für sich: Wer ihn vom Eingang Siebeckstraße aus betritt – rechts neben dem dort befindlichen Österreichischen Gartenbaumuseum –, stößt gleich mal auf die Hülle eines der berühmten Beetz’schen Pissoirs, kann eine asiatisch gestaltete Parklandschaft mitsamt Steingarten bewundern, einen Monet-Garten (Teichbrücke inklusive), einen steirischen Beerengarten und einen pannonischen Bauerngarten. Auf dem Gelände des letzteren wurden auch eine Bienenhütte sowie eine Tschardake verfrachtet, dabei handelt es sich um ein Holzgebilde aus Podersdorf, das ursprünglich zum Trocknen von Maiskolben diente.
Sogar ein ursprünglich am Weltausstellungsgelände von 1873 aufgestellter Pavillon hat seinen Weg hierhergefunden – eine beliebte Fotokulisse für Hochzeitspaare –, Heide-, Gaukler- sowie Ginkgo- und Goethegarten vervollständigen das Angebot für die Liebhaber_innen betreuter Pflanzenwelt.

Übungsstätte für Lehrlinge.

All dieser Pracht zum Trotz besteht der Hauptzweck der Anlage aber nicht darin, müßigen Naturfreund_innen zur Ergötzung zu dienen: Der Schulgarten ist in erster Linie Anschauungs- und Übungsfeld für die Lehrlinge der auf seinem Gelände angesiedelten städtischen Berufsschule für Gartenbau und Floristik, und dort wird naheliegenderweise auch Friedhofsgärtnerei unterrichtet. Laut Berufsbeschreibung der Wirtschaftskammer ist dafür «ein gewisses Maß an Taktgefühl (…) unerlässlich», und was liegt da näher, behutsam an die neue Arbeitswelt herangeführt zu werden, indem das Gelernte in einem Musterfriedhof erprobt wird? Es handelt sich dabei um einen Friedhof ohne Trauernde und ohne Tote, denn die in einem gut eingehegten Areal aufgestellten acht Grabsteine stammen von aufgelassenen Gräbern richtiger Friedhöfe, manche der kaum mehr kenntlichen Einträge datieren aus dem 19. Jahrhundert, das zuletzt vermerkte Sterbejahr ist 1989; als Berufe der Verstorbenen werden Verlagsbuchhändler, Philharmoniker, Fabrikant und Oberinspektor der Südbahn angegeben.
Angelegt wurde der Musterfriedhof im Jahr 2002, direkt hinter ihm braust die U-Bahn vorbei. Die auf den leeren Gräbern eingesetzten Pflanzen werden in einem der Folien­tunneln des Schulgartens herangezogen, in Botanik Ungeübte lernen anhand von Namensschildern, dass Hainbuche, Liguster und Kornelkirsche auf dem Friedhofsgelände wachsen.
Während die demnächst einziehenden Bewohner_innen der von den Immobilienkonzernen Signa und Are als Kooperationsprojekt namens Vienna Twenty Two errichteten Hochhäuser den Friedhof von ihren Luxuswohnungen aus ganzjährig im Blick haben werden, kann dieser Geheimtipp nur äußerst selten besichtigt werden: Geöffnet ist der Schulgarten Kagran samt Musterfriedhof nur am ersten Donnerstag jeden Monats von 10 bis 18 Uhr – dieses Jahr also noch am 5. November und am 3. Dezember.
Im Juli und August stehen die Chancen für einen Besuch besser, denn da ist der Schulgarten zusätzlich montags bis mittwochs von 10 bis 18 Uhr zugänglich. Da werden dann auch die Liegestühle, die von der Umweltstadträtin auf dem am Friedhof angrenzenden Rasen aufgestellt wurden, wieder zum Verweilen einladen; damit Wien seinem Ruf als morbider Nekropole entspricht, tragen diese den passenden Slogan: «Wien liegt gut!»