Der Ton macht den Brieftun & lassen

Für die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Eva Hallama ist das Aufbewahren von privaten Hörbriefen eine sehr persönliche, berührende Arbeit Foto: Lisbeth Kovačič

Eva Hallama sammelt und restauriert private Audiobriefe für das Forschungsprojekt Sonic Memories Audio Letters in Times of Migration and Mobility – SONIME an der Österreichischen Mediathek.

INTERVIEW: ELISABETH KLING

FOTO: LISBETH KOVAČIČ

Ihr seid auf der Suche nach Hörbriefen. Wonach genau haltet ihr Ausschau?

Eva Hallama: Wir suchen nach privaten Audio-Aufnahmen, die man sich geschickt hat, um brieflich miteinander in Kontakt zu bleiben. Aufnahmen, die die Möglichkeit boten, die Stimme der Liebsten zu hören, von denen man vielleicht über viele Jahre hinweg getrennt war, man sich aus finanziellen Gründen nicht sehen konnte. Solche Aufnahmen waren oft viel günstiger, als zu telefonieren, oder einfacher, als zu schreiben, wenn beispielsweise Großeltern nicht schreiben oder lesen konnten.
In erster Linie suchen wir nach Kassetten und Tonbändern, weil wir ­davon ausgehen, dass die noch am ehesten vorhanden sind. Unser Aufruf umfasst aber auch Audiobriefe auf Direktschnittplatten, Wachswalzen und anderen Tonträgern.
Wir hören, sichern, beforschen und digitalisieren solche Aufnahmen, mit dem Ziel, diese, in Abstimmung mit den Übergeber:innen, auch der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Bis ­heute finden sich in Medien-, Audio- oder Soundarchiven sehr wenige Sprachaufnahmen aus privaten Quellen, außer vielleicht von berühmten Menschen, aber Sprachaufnahmen aus dem Privatkontext ­gehörten früher nicht zur Sammlungsstrategie.

SONIME ist ein gemeinsames Forschungsprojekt der Österreichischen Mediathek am Technischen Museum Wien mit dem Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, es besteht erst seit 2021. Wie kam es dazu?

Ich habe mehrere Jahre in verschiedenen Projekten in der Österreichischen Mediathek gearbeitet, an Interviews mit Verfolgten aus dem NS-Regime, einem akustischen Stadtplan und einer Online-Ausstellung mit Ausschnitten aus lebensgeschichtlichen Interviews. Über Projekte wie «Migration sammeln» im Wien Museum und eines über «tönende Feldpostbriefe» habe ich mehr über das Versenden von Sprachnachrichten erfahren. Das Thema hat mich sehr gefesselt, ich habe mich auf die Suche gemacht, was es sonst noch gab, und tatsächlich so vieles – so früh – gefunden, beispielsweise die Automaten, in denen man seine Stimme aufnehmen konnte, die es seit den 1930er-Jahren gegeben hat.
So kam die Idee zu einer Projekteinreichung, im Rahmen einer Ausschreibung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurde SONIME 2021 ausgewählt. Wir sind ein kleines Team, bestehend aus zwei Projektleiterinnen und zwei studentischen Mitarbeitern und werden von den Mitarbeiter:innen ­unserer Host-Institutionen vor allem für Technik und Digitalisierung unterstützt.

Was genau fasziniert Sie am akustischen Kulturerbe?

Akustische Erinnerungen sind oft nicht einfach abrufbar. Man kann sich spontan zum Beispiel an die Stimme eines Verstorbenen nicht genau erinnern. Hört man sie aber wieder, dann ist sie, inklusive vieler Erinnerungen, sofort wieder glasklar.
Mich berührt das Thema persönlich sehr. Mein Vater ist sehr früh verstorben, als ich sieben Jahre alt war. Als Weihnachtsgeschenk für seinen Vater, meinen Großvater, hatte er eine Kassette mit uns Kindern aufgenommen. Als ich 2014 in der Mediathek gearbeitet habe, habe ich diese Kassette mit der Stimme meines Vaters das erste Mal wieder gehört, es war irrsinnig bewegend. Das ist das Tolle an solchen Audiobriefen, sie sind sehr affektiv, man spürt gleich ganz viel.

Haben Sie eine Lieblingsaufnahme?

Viele. Zum Beispiel ist da eine ­Aufnahme von einer Übergeberin, deren Mutter in den 1960er-Jahren ein Tonband von ihrer jüdischen Freundin erhalten hat, die 1938 wegen der Nationalsozialisten in die USA ausgewandert ist. Besonders toll finde ich auch eine Aufnahme von einer Direktschnittplatte einer Familie, die ursprünglich auch aus Wien kam, aber während der NS-Zeit geflohen war. Die Tochter will darauf nicht mehr Deutsch sprechen, was das einzige Indiz für die Verfolgung durch die Nazis und den tragischen Kontext der Platte ist, während sie sonst sehr lustig anzuhören ist. Manchmal hab’ ich beim Anhören solcher Dateien das Gefühl, es spricht jemand aus einem anderen Jahrhundert zu mir. Und es ist ja irgendwie auch so.

Ihr nähert euch den Hörbriefen aus unterschiedlichen Perspektiven. Warum ist das wichtig?

Wir beforschen die Objekte aus vielen verschiedenen Blickwinkeln, zum Beispiel kann die Materialanalyse sehr aufschlussreich sein. Dazu muss man wissen, dass akustische Aufnahmen viel weniger erforscht sind als Filme, vor allem private Selbstaufnahmen. Da die Tonträger viel seltener und so unterschiedlich sind, ist oft erst mal die Konservierungswissenschaft gefragt. Sie bestimmt, wie mit einer Aufnahme umzugehen ist, wie sie gelagert und gereinigt werden soll. Für diese Grundlagen der Materialforschung ist meine Co-Projekt­leiterin Katrin Abromeit aus dem Programmarchiv zuständig.

Auch die Verpackung kann aufschlussreich sein. Was kann das Material über die historische Nutzung aussagen?

Walzen konnte man abschaben und wieder bespielen. Wurde eine Aufnahme oft angehört, ist die Qualität meist schlechter.
Wir interviewen die Übergeber:innen auch zu den Situationen beim Anhören. Wann oder wie oft wurde abgehört? Wir ­haben ­einen ­sogenannten «tönenden Feldpostbrief» ­eines Vaters, der letztlich nicht mehr aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekommen ist, der von der Familie dann immer zu Weihnachten ­angehört wurde. Das gibt ­Aufschluss über die sozialen Situationen. Auch die Theorie der Stimme aus psychoanalytischer ­Perspektive spielt eine Rolle in unserem Projekt. Was ­bedeutet Stimme? Sie ist das Erste, was der Fötus im Mutterleib hört, das auch manchmal weg sein kann. Und somit das Erste, das er vermisst. Wie ein Objekt der Begierde, dass ihn eine Erfahrung von Lust und Befriedigung aber auch von Verlust erleben lässt. Alle ­anderen Geräusche sind stetig, Herzschlag oder Verdauung, aber die Stimme ist mal da, mal nicht. Wir Menschen sind außerdem soziale Wesen, ­Kommunikation macht ­unsere Gesellschaft aus. Über das Sprechen und die Stimme, mit «Ich wollte mal wieder deine Stimme hören» versichern wir uns unserer Beziehungen.

Beeinflusst Technik auf den verschiedenen Tonträgern die Botschaften?

Bei den historischen Aufnahmen wurde die Herausforderung der Technik wiederholend zum Bestandteil der Nachricht. Die Aufnehmenden tun sich schwer, die Aufnahme richtig zu machen, sich vor dem Mikrophon zu ­positionieren, richtig reinzusprechen. Das war bei Platte oder Wachswalze bei der man noch dazu laut in einen Trichter sprechen musste, auch nicht so einfach. Mit der Kassette hat sich das dann fundamental geändert, man konnte zurücklassen, oder etwas überspielen. Oft wird auch thematisiert, dass man sich zwar freut, eine Nachricht aufzunehmen, es aber einfach nicht dasselbe ist, als wenn man mit dem:der Adressat:in zusammen ist. Diese Sehnsucht, die ändert sich nie.

Kauft ihr auch Objekte an?

Ja, gelegentlich auf Online-Marktplätzen, allerdings haben wir kein großes Budget ­dafür. Außerdem sind uns die Geschichten dahinter wichtig.

Wie läuft das dann ab, wenn sich Objekt­geber:innen bei euch melden?

Erst treffen wir uns zu einem Vorgespräch und beschließen gemeinsam, wie wir weiter vorgehen möchten. Oft lagen die Tonträger in Kellern oder Dachböden und wurden ewig nicht mehr, vielleicht sogar noch nie ­gehört. Manchmal digitalisieren wir auch nur. Wenn jemand mit einem Objekt persönlich viel ­verbindet, dann kann er oder sie dieses natürlich wieder mit nach Hause nehmen, kann das ­Digitalisat erhalten, und es wird nicht langzeitarchiviert. Jede:r Übergeber:in entscheidet, ob die jeweilige Aufnahme nur der Forschung, oder der ­Öffentlichkeit oder auch nur für dieses Projekt zugänglich ist. Auch mit Sperrfristen, erst in 50 Jahren oder anonym. Es ist uns sehr ­wichtig, dass die Übergeber:innen ­bestimmen, wie ­etwas archiviert wird. Unser Anspruch ­dabei ist, gemeinsam zu reflektieren, in welchen ­Kategorien ein Objekt abgelegt wird oder welche Verschlagwortungen benutzt werden sollen. Damit sich die Personen auch gut repräsentiert und wertgeschätzt fühlen. Es muss sich auch nicht immer um die Aufnahmen selbst handeln, wenn diese vielleicht kaputt oder verloren gegangen sind. Gerne sprechen wir auch mit Leuten, die Audiobriefe verschickt haben über ihre Erinnerungen und die Objekte, die ­ihnen einmal so wichtig waren. 

www.mediathek.at/sonime