«Die armen Wiener»vorstadt

Im ruralen Garten fernab von Corona lässt sich die Krise gut ausblenden. Aber ist die Situation am Land wirklich besser? Eine Selbstreflexion mit Hilfe eines Familienerbstückes, einer Analogkamera.

Text & Fotos: Nina Thiel

Es ist ungewöhnlich warm für einen Tag im März in der Obersteiermark. Mein Vater gießt die Hochbeete öfter als üblich, so auch heute am Sonntag. Ich trage keine Schuhe. Das Gras im Garten meiner Eltern ist lange und weich. Die Mittagssonne spiegelt sich in den Glashäusern und blendet mich. Mit zugekniffenen Augen sehe ich das Wasser aus dem Gartenschlauch auf die kleinen Salatpflanzen regnen. Ich höre zwitschernde Vögel und die Stimme meiner Mutter. Zwischen den Hochbeeten telefoniert sie mit Verwandten. Ich lege mich ins Gras und bin froh, nicht mehr in der Großstadt zu sein. «Die Armen», geht es mir durch den Kopf. Ich verfolge das Telefonat und denke an Verwandte und Freund_innen in Stadtwohnungen.

Wo das Leben still steht.

Obwohl die Pandemie den Hochschulbetrieb unterbrechen lässt und somit eine willkommene Lernpause beginnt, habe ich beschlossen, Wien zu verlassen. Alleine in meiner Singlewohnung – sie hat weder Balkon oder Terrasse noch Gartenzugang, nur zwei Fenster – möchte ich Ausgangsbeschränkungen nicht erleben müssen. Lieber dorthin, wo das Leben angeblich stillsteht.
Ich befinde mich in meiner Heimat: der 2.020-Einwohner_innen-Marktgemeinde Öblarn. Österreich erlebt seit über zwei Wochen einen sogenannten Lockdown: Geschäfte für Luxusgüter haben geschlossen, Freizeit- und Kulturangebote wurden eingestellt. Veranstaltungen wurden abgesagt oder auf unbekannte Dauer verschoben und die Außengrenzen bis auf Ausnahmen geschlossen. Die Bevölkerung wird dazu aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Die Weitläufigkeit meiner Heimatgemeinde beruhigt mich. Hier leben durchschnittlich nur 29 Menschen pro Quadratkilometer, während es in Wien 4.609 sind. Gesperrte Bundesgärten verkleinern den städtischen Freiraum zusätzlich. Einschränkungen bei der Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel verhindern Ausflüge in umliegende Naturgebiete. «Die sind eh arm, die Wiener», besprechen wir, während wir die Situation in den Fernsehnachrichten verfolgen.
Am 24. März meldet Wien 542 an Corona Erkrankte, am Land sind es deutlich weniger. Im Bezirk Liezen, welcher Öblarn gemeinsam mit 29 anderen Gemeinden umfasst, verzeichnet das Gesundheitsministerium am selben Tag 49 infizierte Personen. Die Zahlen wirken im ersten Moment beruhigend, stützen aber nicht meine Vorstellung der ländlichen Sicherheit. Prozentuell gesehen sind in der Hauptstadt sogar weniger Menschen mit dem Virus infiziert.

Heimaturlaub im Homeoffice.

Einige Tage nach meiner Rückkehr in die Heimat ist die Lernpause vorüber. Ich sitze am Laptop und befinde mich «an der Fachhochschule». Das Gästezimmer meiner Eltern ist zu meinem Homeoffice geworden. Der digitale Unterricht ist ungewohnt, sowohl für Lektor_innen als auch für Studierende. Technische Probleme, schlechte Internetverbindungen und Unklarheiten zum Ablauf von Prüfungen prägen die Online-Gespräche. Die letzte Vorlesung des Tages ist vorbei. Meine Augen schmerzen vom grellen Computerlicht, und eine weitere Videokonferenz startet. Mit einer Dose Bier in der Hand begrüße ich meine Freund_innen am Bildschirm. Sie befinden sich momentan in Wien. Wir sprechen darüber, wann wir uns wiedersehen würden. «Ich weiß es nicht.» Noch plane ich nicht, nach Wien zurückzukehren.
Es ist eben besser, während der Corona-Krise am Land zu leben. Zumindest sind 76 Prozent der Österreicher_innen dieser Meinung, wie eine Umfrage von Raiffeisen Immobilien ergeben hat. Aber auch die ländliche Idylle ist von Corona betroffen. Zwei örtliche Gasthäuser, ein Café sowie zwei Friseurbetriebe mussten in Öblarn, den Auflagen der Regierung entsprechend, während des sogenannten Lockdowns schließen. Besonders stark leidet laut dem Arbeitsmarktservice die Tourismusbranche an der Krise. Sie ist einer der bedeutendsten Wirtschaftszweige meiner Heimatregion. Die Arbeitslosigkeit im Ort ist seit Februar um etwa 73 Prozent gestiegen, während die Zunahme in Wien, laut AMS bei etwa 38 Prozent gelegen hat.

Beschauliches Landleben.

Für die Einheimischen scheint die Situation herausfordernd zu sein. Trotzdem «flüchten» viele Menschen während der Corona-Krise aus urbanen Regionen aufs Land. Insgesamt 170 Personen haben laut der Gemeinde ihren zweiten Wohnsitz in Öblarn gemeldet. Wie viele Ferienhäuser während der Corona-Krise tatsächlich bezogen wurden, ist unklar. Man merke aber die Rückkehr vieler Menschen, welche die meiste Zeit in Städten leben, arbeiten oder studieren, wie Sandra Bucher, Angestellte im Gemeindeamt, erzählt. Mindestens drei weitere in Wien Studierende treffe ich im gemeinsamen Heimatort. Eine von ihnen, Lena, meint: «Man muss es am Land gar nicht mitkriegen – man lebt sein beschauliches Landleben.» An Corona denke sie aktuell nur, sobald sie im einzigen örtlichen Lebensmittelgeschäft ihre Schutzmaske trägt.

Rückkehr.

Etwa sieben Wochen nach meiner Stadtflucht kehre ich nach Wien zurück. Die österreichische Wirtschaft wird langsam wieder hochgefahren, wie es Expert_innen nennen. Die Maßnahmen haben Wirkung gezeigt und die Zahl der täglichen Neuerkrankungen in Österreich liegt jetzt im zweistelligen Bereich – Tendenz landesweit fallend.
Ich schaue aus einem der beiden Fenster meiner Wohnung und beobachte die Menschen auf der Straße. Wenige tragen Mundschutz. Den Mindestabstand halten fast alle ein. Die Wiedereröffnung meines Lieblingscafés, die bekannten Bierverkäufer_innen am Donaukanal und die Aussicht auf bald wieder stattfindende Filmvorstellungen im Schikaneder Kino nehmen mir dir einstige Unsicherheit vor der Einengung der Stadt.
Die zahllosen Möglichkeiten des städtischen Alltags bieten sich wieder an. Heute erkenne ich die Fragilität meiner urbanen Freiheit und schätze sie dadurch umso mehr. Vor allem schätze ich aber seit dem Corona-Lockdown die Beständigkeit meiner Heimat. Und ihre Unabhängigkeit. Die Möglichkeit der gelegentlichen «Flucht» aufs Land erscheint mir seit der Krise wertvoller denn je. 

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Zwischenzeit Online, die diese Arbeit mit teilweise anderen Bildern erstveröffentlichte:
www.zwischenzeit.com