Die Eroberung des Brotes und der FreiheitArtistin

Szymon, Shimele, Simón. Aufgewachsen in Jekaterinoslaw, vor antisemitischen Pogromen geflohen, in Argentinien verhaftet, später Teil der Internationalen Brigaden – ein Comicroman widmet sich der Biografie des russisch-jüdischen Anarchisten Simón Radowitzky.

Text: Martin Reiterer

Das Ushuaia-Gefängnis am südlichsten Zipfel Argentiniens. Mitte der 1910er-Jahre. Simón wird wieder einmal in den «Eiskasten» gebracht, wie die kleinen fensterlosen Zellen genannt werden, in denen Häftlinge isoliert in Einzelhaft sitzen. Keine Bücher, keine heiße Suppe. Wie überlebt man das?
Der Comicroman Vom Schtetl zum Freiheitskämpfer des in Spanien lebenden Argentiniers Agustín Comotto ist ein innerer Dialog des Gefangenen Simón Radowitzky mit Lyudmyla. Genauer: die Tochter eines jüdischen Schmieds in Jekaterinoslaw und Studentin, die sich im Geheimen mit einem Kreis von anarchistischen Freund_innen trifft. Bei jenem Schmied lernt der kleine Shimele, als Sohn polnischer Einwanderer auch Szymon genannt, einige Zeit sein Handwerk. Nachts unter der Hobelbank, wo sein Lager ist, macht er mit der anarchistischen Literatur Bekanntschaft. Eines Abends liegt ein Buch auf der Werkbank, Piotr Kropotkins Die Eroberung des Brotes. Das liegengelassene Buch war keine Unachtsamkeit; nachts verabredet sich Lyudmyla mit ihren Freund_innen in der Werkstatt, Shimele, der ihren Gesprächen lauscht, sollte bald einer von ihnen sein.

Falscher Tag, falscher Ort.

Der Schwarzweiß-Comic, in den sich Spritzer und Flecken roter Farbe mischen, beginnt aber an einer anderen Stelle. Bevor Szymons Familie nach Jekaterinoslaw geflüchtet war, lebte sie in dem jüdischen Schtetl Stepanitz. Der Hauch von Idylle, den die realistischen Zeichnungen des Dorfs verströmen, verflüchtigt sich schlagartig. Die wenigen Lichtpunkte, die in Simóns Zelle dringen, wie Schneeflocken, erinnern ihn an jenen Wintertag, an dem sie kamen. Szymons Freund Dimitri ist an diesem Tag nicht mit Szymon in den Wald gegangen, Dimitri war an diesem Tag am falschen Ort. Die Kosaken haben ihn auf ihrem Streifzug ermordet, weil sie glaubten, er sei Jude. Im Namen des Zaren haben sie das Schtetl «gesäubert» und niedergebrannt. «Warum bist du an diesem Nachmittag nicht mit mir in den Wald gegangen, Dimitri?» – An diesem Tag hat sich für Szymon alles geändert. Sein Bruder Grigori hat das Massaker miterlebt, er sollte aus dem Zustand der Verstörung nie mehr zurückkehren: «Ich habe an dem Tag die Angst verloren, Lyud­myla, und mein Bruder den Verstand.»
Obwohl das Pogrom bei Comotto nicht genau datiert ist, lässt es sich gut einordnen: Der 1891 geborene Radowitzky kommt etwa als Zwölf-, Dreizehnjähriger nach Jekaterinoslaw. 1903 ist eines jener schrecklichen Jahre für die jüdische Bevölkerung im Zarenland, in dem Kosak_innen reihenweise jüdische Dörfer überfallen, plündernd, brandschatzend, mordend. Weltweites Aufsehen erregte das Pogrom von Kischinew zu Ostern desselben Jahres. Als «eine Art Tollwut» beschrieb der französische Journalist Albert Londres die Pogrome. Das «Gespenst» des Pogroms ging in Russland aber bereits seit 1881 um, als den Jüd_innen die Ermordung des Zaren Alexander II. untergejubelt wurde. In dieser Zeit wird der Antisemitismus nicht nur hoffähig, sondern für die folgenden Zaren regelrecht «ein Mittel zu regieren», wie Joseph Roth es formulierte. Die Geheimpolizei Ochrana – aus diesem Anlass im selben Jahr von Zar Alexander III. gegründet – stachelt zu antisemitischen Pogromen an und wird zur Russischen Revolution im Jahr 1905 ihre Agents Provocateurs unter die friedlich demonstrierenden Massen schicken.

Tausend gigantische Käfige.

Die Geschichte Radowitzkys ist eng mit der Entstehung des russischen Anarchismus verknüpft. Auf Streiks und Demonstrationen gegen eine immer dreister werdende Obrigkeit antwortete die Armee in St. Petersburg mit tödlichen Gewehrsalven; das als Petersburger Blutsonntag bezeichnete Ereignis löste eine Welle gewaltsamer Proteste in ganz Russland aus. Szymon und Lyudmyla finden sich unter den anarchistischen Revolutionär_innen. Doch die Revolution wird niedergeschlagen; Szymon verlässt fluchtartig das Land. Lyud­myla kann den Dampfer, der Szymon nach Argentinien schifft, nicht mehr erreichen.
In seiner Zelle in Ushuaia, diesem «Käfig mit tausenden Käfigen» erscheint Simón die Welt als eine umgestülpte Leibniz’sche Monadologie. Simóns düstere Käfige drängen das Bild von Leibniz’ «fensterlosen» Monaden auf. Die Metapher durchzieht den gesamten grafischen Roman. Radowitzky, der sein halbes Leben lang in Gefängnissen verbracht hatte, so macht Zeichner/Autor Comotto anschaulich, haben viele Türen, die ihn aus einem Käfig gelotst hatten, in einen anderen geführt. Russland war so ein Käfig, und auch Argentinien, in das zahllose Russ_innen, darunter viele Anarchist_innen, emigriert oder geflüchtet waren, stellte sich als «ein riesiger Käfig» heraus, in dem die Arbeiter_innen ein ärmliches Leben fristeten. Doch eines hat Simón aus seinen Erfahrungen wie aus den Büchern gelernt: Es gibt keine «prästabilisierte» Ungerechtigkeit, sie wird von den Regierungen und ihren Verbündeten geschaffen und aufrechterhalten.
Comotto lässt Simón das Blutbad, das der argentinische Polizeipräsident Ramón Falcón angesichts der Maiaufmärsche im Jahr 1909 anordnet, als Déjà-vu erleben, als Spiegelung der Niederschlagung der Petersburger Demonstrationen. Die Erinnerung geht noch weiter zurück, für Simón ist Falcón ein Widergänger: «Er war dem Kosaken, der Dimitri in meinem Heimatdorf ermordete, wie aus dem Gesicht geschnitten.» Einige Monate später wird Simón «Falcón, den Kosaken» mit einer Bombe ermorden. Als nur 18-Jährigem kann der Richter ihm die Todesstrafe nicht erteilen. 1930, nach 21 Jahren Haft, wird Simón, von der argentinischen Arbeiter_innenschaft als Held gefeiert, begnadigt und aus Ushuaia entlassen. Auf einmal sieht er sich «in einem so großen Käfig», dass ihm «auf jedem Schritt schwindelig» wird. Während er abgeschottet war, hatte ein Weltkrieg stattgefunden und die einstweilen gelungene Russische Revolution bereits ein neues Gesicht erhalten. Stalin hat das Land in «einen gigantischen Käfig» verwandelt. Als Simón sich wenige Jahre später am Spanischen Bürgerkrieg beteiligt, muss er erleben, wie Stalins Agent_innen mehr Aufwand in die Diffamierung und Ausschaltung von Anarchist_innen investieren als in den Kampf gegen die Faschist_innen.

Sehnsucht nach Gerechtigkeit.

Die Metapher des Käfigs enthält noch eine weitere Ebene: Szymons Bruder Grigori musste mit ansehen, wie die Kosaken Dimitri mit dem Säbel entzweihauten. «Macht seine Mama jetzt Essen für beide Dimitris?» Die Brutalität der Kosaken hat für Grigori eine Grenze überschritten. Er wurde zu einem Cousin nach Argentinien geschickt, in der Hoffnung, dass er Hilfe zur Überwindung seines Traumas erhalten würde. Stattdessen wurde er dort in ein Irrenhaus gesteckt. Für Simón war der Wahnsinn, in den viele Häftlinge in Isolationshaft neben ihm getrieben wurden, genau so ein Käfig, «riesengroß, gewaltig». Der eigenen Versuchung, in den Käfig seines Bruder hinüberzugehen, widerstand er. Es war Lyudmyla, vielmehr Simóns ungebrochener Glaube an sie, die ihn davor rettete. Dass sich Lyudmyla – im Gegensatz zu dem insgesamt historisch genauen Comic – zum größte Teil als Fiktion des Autors herausstellt, mag die Leser_innen wie ein Blitz der Enttäuschung durchfahren. Doch Comotto gelingt es mit dieser Figur, einen Wesenszug Simón Radowitzkys zu veranschaulichen. In ihr vereinen sich nicht allein Lehrmeisterin, Geliebte und bitterer Verlust, Lyudmyla ist die Verkörperung seiner Sehnsucht nach Gerechtigkeit.

Agustín Comotto: Vom Schtetl zum Freiheitskämpfer
bahoe books 2019
280 Seiten, 26 Euro