Die KapuzeDichter Innenteil

Mobbing, Boulevardzeitung Augustin

Es ist halb zwei in der Nacht, ein Samstag.
Zusammengekauert saß sie da, auf meinem niedrigen Bett im Wohnzimmer. Die Kapuze des schwarzen, großen Sweaters zog sie immer wieder fast bis zu ihrer Nase, ihre dichten, struppigen, langen blonden Strähnen hingen seitlich über den Oberkörper. Die Stirn sowie ihre Augen versuchte sie immer wieder zu verstecken, als sei dort etwas, für was sie sich schämen müsste. Das Kinn fast in die Brust gepresst, als wäre nur diese Lage ihr behilflich, die vielen elendigen Bilder in Erinnerung zu rufen. Kurz ließ sie die Kapuze aus, um ihre Arme um sich zu schlingen, wie ein sitzender Embryo.

Als würde sie den Schmerz ihrer Seele festhalten, die vielen Jahren ihrer hilflosen Jugend tiefes Herzeleid den Fluten zu entreißen, als hätte sie seit einer Ewigkeit darauf gewartet, ihre Wunden, die sie mit dem Kinderpflaster damals in Baku vor langer Zeit überklebt hatte, noch einmal aufzureißen. Diese Wunden, die sie vorsichtig öffnete, während in der Gegenwart ihr immer wieder mit Glasspitzen neue zugefügt wurden. Es schien, als ob die Vergangenheit ihr Dasein überredete, diese zarte Knospe, die gerade zu blühen begonnen hatte, Wasser und Sonne zu rauben. Große Tränen flossen über ihr leicht gelblich-braunes Gesicht, aus ihren großen hellen Kastanien-Augen.
Nadja saß auf dem anderen Bett und ich dicht neben ihr.

Mit schluchzender Stimme fing sie an zu klagen.
«Einmal als ich und mein Schulfreund nach der Schule weggingen, kam dieses Mädchen und wollte meinen Freund schlagen, ich wollte ihm helfen. Sie kam, drückte mich gegen die Wand, hielt mir ein Messer an die Kehle und schnitt mich leicht. Die vielen Passanten standen dort in der Neubaugasse bei der Busstation und schauten zu.»
Ich und Nadja blickten uns an wie aus allen Wolken gefallen, und verärgert, während sie den Kopf nach unten hängen ließ und zu Boden starrte.
«Keiner wollte dir helfen!», riefen wir.
«Es kam ein Passant und fragte, ob alles okay ist. Ich rief: Ja, alles okay.
Dann tauchte meine Lehrerin auf und fragte, was los sei. Das Mädchen hat gelogen, es sagte, dass ich sie angespuckt habe. Am nächsten Tag hat mir die Lehrerin kein Wort geglaubt, im Gegenteil, sie stiftete fast alle Lehrer an, mir nicht zu glauben, und ich bekam noch mehr Probleme in der Schule, alle haben mich gehasst.»
«Was hat deine Mutter gemacht, als du ihr das erzählt hast?», rief ich verärgert.
«Sie hat dort angerufen.»
«Und …?»

«Es veränderte sich nichts wirklich», klagte sie weinerlich. «Sie ignoriert mich, sie sagt, das sei eine gute Schule», rief sie schluchzend. Heulend fuhr sie fort: «Dann beim Turnen haben sie mir meine neuen teuren Turnschuhe weggeschmissen in den Mistkübel. Ich habe sie nächsten Tag nicht mehr gefunden. Sie stehlen mir alle meine Sachen, oder nehmen sie, ohne zu fragen. Mir tut es leid um meine teuren Zeichenstifte, die verschwinden.»
Jetzt wurde ihre Stimme immer zerbrechlicher, in mir mischten sich Mitleid und ein Beschützerinstinkt, ich wollte dieses Mädchen, das ich seit seinem 4. Lebensjahr kenne, schützen und ihm Trost geben. Auch eine große Portion Wut gegenüber diesen Kindern und ihrer unbeteiligten Mutter hatte ich. Ich legte meine rechte Hand auf ihre Schulter, das war das wenigste, das ich ihr in diesem Augenblick als kleinen Trost schenken konnte.
Nadjas Augen waren müde, doch sie hörte aufmerksam zu und ihre Augen füllten sich jetzt mit Tränen.
«Sie sagen, dass ich ein Pferdegesicht habe, eine viel zu große Stirn und fett bin.»
Dann zog sie mit ihren dünnen blassen Fingern an beiden Seiten die Kapuze tiefer, um ihr Gesicht noch mehr zu verstecken.

Ich reichte ihr ein Taschentuch, sie wischte ihre Tränen ab und fing, weiter heulend, an zu reden.
«Du schläfst mit einer Kapuze über die Stirn», rief Nadja erstaunt.
Sie sagte nichts zu dieser Bemerkung, blickte kurz versunken auf den Boden.
«Die Lehrer schimpfen mit mir, warum ich mitten im Unterricht eine Kapuze trage. Ich trau mich ihnen nicht zu sagen, warum.» Sie fing an, schneller zu atmen. «Wer sagt das?», rief ich aufgebracht, «das stimmt nicht, du hast eine ganz normale Stirn. Ich finde, dass du ein sehr schönes Gesicht hast.» Sie zog wieder an ihrer Kapuze und machte einen krummen Rücken.
«In meiner Klasse hassen sie mich alle.»
Nadja rief: «Schau mal die Stirn von ihr», und deute mit dem Zeigefinder auf meine Stirn. «Die ist viel größer als deine.» «Ja, schau mal», rief ich und legte beide Hände auf meine Stirn, «viel größer.» Sie lächelte leicht, während sie jetzt mit einer Hand die Kapuze hielt und mit der anderen das zerknüllte Taschentuch.

«Die Mädchen haben mich verspottet in der Turnstunde, dass ich keinen BH trage und einen viel zu kleinen Busen habe.»
«Ich habe Nadja auch in einer öffentlichen Schule angemeldet, als sie die Volksschule beendet hatte. Aber ich hatte ein ganz mulmiges Gefühl in Bauch, ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, am nächsten Tag habe ich sie rausgenommen und in dieser Schule angemeldet, in die sie jetzt geht. Es ist eine Privatschule. Sie ist nicht so teuer.»
Ein tiefer Seufzer kam aus meiner Lunge. Sie atmete schnell tief ein und fuhr fort mit ihrer weinenden Stimme.
«Nein, meine Mutter meint, dass es eine gute Schule ist und dass die Lehrer gut sind. Sie möchte lieber die Familie in Aserbaidschan mit dem Geld unterstützen», sprach sie, als ob sie eine Entschuldigung suchte für ihre Mutter und für ihren beschwerlichen Weg. Sie versuchte mit aller Kraft einen kleinen Lichtpunkt zu erblicken in dieser erschreckenden Dunkelheit. «Ihre eigenen Eltern waren sehr streng, sie findet die Schule o.k.» Schluchzend redete sie weiter: «Sie nutzen mich nur aus, diese Mädchen, sie stellen sich manchmal, als wären sie meine Freundinnen, nur damit ich sie nach der Schule zu Fastfood einlade, jedes Mal muss ich für sie bezahlen. Immer muss ich meine 5 Euro Taschengeld, die ich für ganze Woche bekomme, ausgeben, für sie. Sogar von der Nachbarklasse werde ich gemobbt, immer nach der Schule warten sie auf mich, um mich an meinen Haare zu ziehen und zu schlagen.»

Ich und Nadja saßen hilflos da, wir konnten nur zuhören und ihren Schmerz mit uns teilen, unsere und ihre Tränen waren in dieser späten Nacht Zeugen, wie grausam Kinder sein können.
In letzte Zeit mied ich ihre Mutter, sie verstand jede gute Absicht von mir als Angriff gegen sich. Ich wurde für sie ein Dämon und eine Pythonschlange, diese mir vertraute Person wurde mein Feind, nach ihrem Besuch fühlte ich mich meist gedemütigt und persönlich sehr verletzt. Ich trauerte um eine gute Freundin.
Für mich war diese Erfahrung nicht so ein großes Problem, denn ich musste nicht mit ihr unter einem Dach wohnen, mir tat diese 13-Jährige sehr leid. Ich hatte einen großen Drang, ihr zu helfen, aber wie kann man ihr wirklich helfen, wenn ihre Mutter ihr nicht beistand. Ich wäre die letzte Person, die ihr und ihrer Mutter noch größeren Schmerz zufügen wollte. «Eines Tages hat mich meine Mutter zur Familie nach Aserbeidschan gebracht, ich war noch sehr klein. Ein Taxi hat sie abgeholt, die ganze Familie hat geweint. Ich wusste nicht, warum, dann fuhr sie weg. Sie ist wieder nach Wien geflogen, um dort zu sterben. Sie hat einen Gehirntumor gehabt, sie wollte dort alleine sterben. Ich bin jeden Tag vor der Haustüre gestanden und wartete auf sie, wenn ich etwas gesagt habe, hat mich keiner verstanden, weil ich nur Deutsch sprach, wenn ich Hunger hatte, ging ich in den Garten und aß Äpfel, sie alle haben mich dort ignoriert.»
Sie begann jetzt wieder zu weinen und wir mit ihr. Oh wie mir dieses Gefühl vertraut war. Wir umarmten sie und weinten. Ich mit meiner verwandten Vergangenheit, Nadja mit ihren vaterlosen Tagen.

Sie streckte leicht ihren Rücken und fuhr fort mit einer ein wenig leiseren und erschöpfteren Stimme, wischte sich die Tränen, das Taschentuch war ganz klein zusammengeknüllt in ihrer Hand, sie hielt es ganz fest. Ich ließ meine Tränen langsam runterrollen und Nadja ihre. Wir hörten ihr weiter aufmerksam zu.
«Dann hat meine Mutter Jesus gefunden und er hat sie ‹geheilt›. Sie wurde eine Christin. Sie hat mich dann wieder nach Wien geholt.»
«Wo war dein Vater?», fragte ich.
«Ihn habe ich nur einmal gesehen. Er hat meine Mutter mit einem Teller beworfen und ihr das Gesicht zerschnitten, beinah wäre sie blind geworden, sie flüchtete von Baku mit wenig Geld. Sie war mit mir schwanger. Sie durfte nicht sagen, dass sie schwanger ist, sie hätte sonst nicht ausreisen dürfen.
Ich habe keine Freunde, ich habe niemanden, ich habe nur euch.» Ich und Nadja hielten sie fest. Sie hielt kurz inne und sagte: «Meine Mutter ignoriert mich.» Dann schnäuzte sie sich, streckte ihren Rücken, und weinend setzte sie fort: «Doch ich werde weiter in diese Schule gehen, ich werde ihr gute Zeugnisse bringen, ich werde studieren und eine Ärztin werden, werde den Führerschein machen, ein Auto kaufen, nur, damit sie glücklich ist, nur, damit es ihr gut geht.»
Jetzt konnte sie nicht mehr reden. Sie brach in einen Weinkrampf aus. Ich umarmte sie und spürte, wie die Tränen ihr Herz spülten, und man sah die vielen Linien, die langsam verheilten, während auf der anderen Seite ein Stern glitzerte. Ich versprach mir, dass ich mir ab diesem Abend mehr Zeit nehmen würde …

Gewidmet meiner Sewi

 

Wer Mobbing und Gewalt in der Schule erfährt oder Betroffenen helfen möchte, kann u. a. bei folgenden Stellen Unterstützung und Info finden:

Stop Mobbing!
www.stop-mobbing.at

WienXtra Jugendinfo
www.wienxtra.at/jugendinfo/mobbing/

Rat auf Draht
www.rataufdraht.at, Tel.: 147

Schulpsychologie Bildungsberatung des Bildungsministeriums
www.schulpsychologie.at/hotline, Tel.: 0800 211 320, Mo–Fr, 10–14 Uhr