Die Obstbäume von morgenvorstadt

Eine typische Streuobstwiese in Österreich (Foto: © Franz Weingartner)

Der Klimawandel bedroht auch die Streuobstwiesen. Lösungsansätze sind in Griffweite. Eine Umschau anlässlich des Internationalen Tages der Streuobstwiese am 26. April.

Wenn der Föderalismus vor einem Tor Halt macht, dann dürfte sich im Hof etwas Besonderes abspielen: Das Landwirtschaftliche Fortbildungsinstitut Niederösterreich hat für einen Kurs mit Alois Wilfling einen Steirer als Vortragenden zum Thema Streuobst eingeladen. Das wäre im Vergleich etwa so, als würde eine italienische Konditorin zum Thema Apfelstrudelbacken nach Wien geholt werden.
Wir sind im Mostviertel, genauer in Haag, beim Hansbauer, einem der großen und bekannten Mostheurigen. In der Stube steht Alois Wilfling in seiner Landarbeiterkleidung. Er pfeift auf die akademische Viertelstunde, obwohl er studierter Biologe ist, und beginnt pünktlich mit seinem Powerpoint-Vortrag. Wilfling ist auch wissenschaftlicher Illustrator, Pomologe, Landwirt, Baumwart und Unternehmer. Er gründete eva & adam, einen Handel mit Streuobstraritäten, der über Fachkreise hinaus für Schlagzeilen sorgt: Das Premiumprodukt, eine Holzschatulle mit 20 verschiedenen raren Äpfeln, kostete in der letzten Saison 120 Euro. Wilfling argumentiert, er wolle damit Bewusstsein schaffen, wie kostbar alte Apfelsorten sind. Und er hätte selber nicht unbedingt damit gerechnet, so viele verkaufen zu können.

«Eine Katastrophe!»

Um Streuobstwiesen ist es sehr schlecht bestellt, der Pomo­loge liefert niederschmetternde Zahlen: Seit Ende des Zweiten Weltkriegs ­seien in Öster­reich 95 Prozent des Baumbestandes auf Streuobstwiesen «ausgerissen» worden. Von den restlichen fünf Prozent sei nur noch ein Prozent «­vital», also fähig, «die nächsten 30 bis 40 ­Jahre zu überleben». «Das ist eine Katastrophe!», so ­Wilfling hinsichtlich der gefährdeten Biodiversität. Apfelbäume können über 100 Jahre alt werden, ­Birnenbäume gar über 150 Jahre. Nur wenige Kilometer Luftlinie vom Hansbauer entfernt steht ein knapp über 160 Jahre alter Grüner Pichlbirnenbaum. Dessen Früchte verarbeiten Bernadette und Peter ­Haselberger zu Birnenwein und vermarkten diesen als «Einzelbaumabfüllung». Obstmost noch exklusiver zu keltern, geht vermutlich nicht.Zurück zur erwähnten «Katastrophe». Diese abzuwenden versucht auch die Arge Streuobst. Sie konnte die Österreichische Unesco-Kommission davon überzeugen, den Streuobstanbau ins Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes in Österreich aufzunehmen. Ohne dass Wilfling auf ­diese im vergangenen Dezember veröffentlichte Entscheidung der Unesco eingeht, warnt er explizit davor, Streuobstwiesen, «so wie wir sie kennen», bewahren zu wollen: «Dieses System ist seit etwa 1850 gleich. So schön es auch ist, warum ist so viel verschwunden?» Er antwortet gleich selbst stichwortartig: «Klimawandel, Agroforst, Bewirtschaftung, Bodenprobleme, Arbeitsmarkt – das Modell mit ausländischen Hilfskräften ist am Auslaufen.» Kurzum, es braucht einen Paradigmenwechsel: «Es gibt Hunderte Publikationen zu Obstplantagen, aber nichts Zukünftiges, nichts Substanzielles über Hochstämme, nur Sterbebegleitungsartikel. Der Forschungsrückstand zu hochstämmigen Bäumen beträgt 80 Jahre», konstatiert Alois Wilfling. Von «Hochstamm» ist die Rede, wenn die Baumkrone bei rund zwei Metern beginnt.
Immerhin lässt die Statistik Austria den Baumbestand im Streuobstbereich Österreich zählen. Laut der Agrarstrukturerhebung aus 2020 (die aktuellste wurde zwar 2023 durchgeführt, aber es sind dazu noch keine Zahlen veröffentlicht, Anm.) ist von 4,2 Millionen Bäumen die Rede, wobei ­etwas mehr als die Hälfte davon von landwirtschaftlichen Betrieben im sogenannten Extensivobstbau – im Gegensatz zum Intensivobstbau in den Plantagen – genutzt wird. Die andere Hälfte fällt in den privaten Sektor.

Urbane Obstparks

Richten wir den Blick auf Wien: Hier sind 2020 insgesamt rund 19.000 Obstbäume gezählt worden (davon fielen rund fünf Prozent in den landwirtschaftlich genutzten Sektor). Eine ­Initiative, die seit 2018 Obstbaumpflanzungen im urbanen Raum durchführt, ist die ObstStadt Wien. Wir treffen Obfrau Victoria Matejka an der Oberen Alten Donau, im zweitältesten von der ObstStadt angelegten Obstpark. «Obst für alle» sei zum symbolischen Vereinszweck geworden. Hauptsächlich handelt es sich um ein Bürger:innenbeteili­gungsprojekt: Für jeden Baum wird eine Pat:innenschaft übernommen. Die Pat:innen betreuen ehren­amtlich ihren Baum. Vor allem müssten sie gießen, denn die Trockenheit mache den Bäumen sehr zu schaffen, meint die Obfrau. Es soll außerdem ein Erlebnis sein, sich etwa beim Spaziergang kostenloses, gesundes Obst zu pflücken. Es gehe also nicht darum, die gesamte Bevölkerung mit Obst zu versorgen.
Von der Stadt Wien werden Flächen für die Obstparks und öfters auch Material wie Erde, Mulch und Wasser zum Gießen zur Verfügung gestellt. Diese Kooperation führt manchmal zu Missverständnissen. Ein Vorwurf lautet etwa, dass alles zugebaut werden würde und daher die «paar Bäumchen eine Augenauswischerei» seien. An dieser Stelle betont Matejka, dass die Obstparks keine «Ausgleichsmaßnahmen» für Verbauung seien, sondern ein eigenständiges, zivilgesellschaftliches Projekt. Die Stadtgemeinde wünsche sich weitere Obstparks, aber der «kleine», ehrenamtliche Verein sei aktuell ziemlich ausgelastet. Unter anderem weil neuerdings ein Hauptaugenmerk auf die Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen gelegt wird. Die ­Aktivitäten des Vereins finanzieren sich über Spenden, Sponsorings und Förderungen, unter anderem durch die Billa-Stiftung Blühendes Österreich.

«Größter Blödsinn.»

In der Stadt Haag gibt es eine Billa-Filiale am Stadtrand – schon im Grünen – mit großem Parkplatz, doch Bodenversiegelung ist jetzt nicht unser Thema. Wir sind wieder auf dem ­Hansbauergut, wo mehr Obstbäume stehen als in den zehn Obstparks der ObstStadt Wien zusammengezählt. Wir spazieren über die Streuobstwiese in den Birnenbaumgarten. Hans Hiebl vulgo Hansbauer spricht von Fehlern: Der «größte Blödsinn» sei es gewesen, Williamsbirne anstelle von alten heimischen und teilweise vergessenen Sorten wie Dorschbirne oder Erbachhofer Apfel gepflanzt zu haben. Und generell hätte er Bäume zu dicht zu einander gesetzt. Hier schließt sich auch der Kreis zu den Empfehlungen von Alois Wilfling: Die Fahrgassen zwischen den Bäumen sollten mindestens zwölf Meter breit sein und «Superhochstämme» – bei solchen beginnt die Krone erst in einer Höhe von vier (!) Metern – setzen, damit auch große Traktoren darunter Platz finden. Doch die radikalste Überlegung Wilflings, mit der er alle Kursteilnehmer:innen überraschen ­konnte, hat nichts mit maschineller Bearbeitung zu tun, im Gegenteil, sie betrifft buchstäblich die Wurzel. In Anbetracht des Klimawandels müssen Obstbäume bestmöglich anwachsen können. Eine Lösung: Die ­Direktsaat von Wildapfel oder -birnensamen, denn sie liefern eine robuste Unterlage zum Veredeln. Alois Wilfling buddelt auch gleich welche rund 80 Zentimeter tief ein, inklusive Wühlmausschutz.
Karin Schroll, eine Kursteilnehmerin, die Balsamessig aus Streuobstbirnen produziert und sich als «Riesenfan von diesen riesigen alten Bäumen» outet, meint resümierend: «Mit dem Setzen des Baumes ist der einfachste Teil der Arbeit erledigt. Um einen wirklich großen, vitalen und langlebigen Baum zu bekommen, muss man ­danach einiges beachten.» Doch es lohnt sich, bei einer Lebenserwartung jenseits von einhundert Jahren.

www.evaundadam.at
www.wien.obststadt.at
www.orchardseverywhere.com