Die Poesie der RevolteArtistin

Die Bewegung des Tahrir-Platzes hätte ohne Kunst nicht siegen können

Elliott Colla, der Autor dieser Abhandung über die Poesie der ägyptischen Revolte, die zum Sturz des Mubarak-Regimes führte, lehrt am «Department of Arabic und Islamic Sudies» an der Universität von Georgetown. Er übersetzte Werke arabischer SchriftstellerInnen ins Englische. Wenn Colla von PoetInnen redet, meint er zweierlei: einerseits die populären DichterInnen und SängerInnen, die ihre Kunst direkt als Beitrag zur Revolte verstehen, andererseits die zehntausenden Anonymen, die auf den Demos spontan Reime und Rhythmen kreierten, deren «heilende» Wirkung evident war: Sie befreiten viele von ihrer Angst.Als 2004 in Ägypten unter dem Motto «Kefaya!» (Genug!) die ersten öffentlichen Demonstrationen stattfanden, sahen sich die DemonstrantInnen mit einer 30-fachen Übermacht der Sicherheitskräfte konfrontiert ein Kräfteverhältnis, das sich in der aktuellen Revolte, die den Diktator Mubarak hinwegfegte, mehr als nur umgedreht hat. Ebenso erstaunlich ist die Poesie des Moments. «Poesie» meine ich nicht im übertragenen Sinne, sondern es geht dabei um die prominente, ganz reelle Rolle, die Dichtung bei diesen Ereignissen spielt.
Die Slogans der Protestierenden sind Reime, die so laut skandiert wurden, wie sie scharf formuliert waren. Als Ben Ali aus Tunis flüchten musste war «Yâ Mubârak! Yâ Mubârak! Is-Saûdiyya fi-ntizârak!» («Mubarak, Oh, Mubarak, Saudi-Arabien wartet!») zu hören, als Teil einer Vielzahl von Couplets, die durch die Straßen hallten. Vom sarkastischen «Shurtat Masr, yâ shurtat Masr, intû baaytû kilâb al-asr» («Ägyptens Polizei, Ägyptens Polizei, du bist nicht mehr als ein Palasthund») bis zum aufsässigen «Idrab idrab yâ Habîb, mahma tadrab mish hansîb!» («Schlag uns, schlag uns, O Habib, schlag uns so viel du willst, wir gehen nicht weg!»; Habib al-Adli ist der abgesetzte ägyptische Innenminister). Letzteres Couplet ist besonders gelungen, weil es auf das alte ägyptische Sprichwort «Darb al-habib zayy akl al-zabib» anspielt: «Die Fäuste des Geliebten sind so süß wie Rosinen.» Diese Poesie ist dabei kein bloßes Ornament des Aufstands, sie ist sein Soundtrack und ein wesentlicher Bestandteil des eigentlichen Geschehens.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Poesie eine verstärkende und mobilsierende Rolle in einem revolutionären Moment spielt. In diesem Kontext sollten wir uns daran erinnern, dass eine Revolution nichts Neues für die ÄgypterInnen ist nicht weniger als drei «offizielle» Revolutionen fanden in der jüngeren Geschichte statt. 1881 setzte die Urabi-Revolution ein korruptes und käufliches Königshaus ab, der Revolution 1919 gelang es beinahe, die britische Militärregierung zu stürzen, und die Revolution 1952 etablierte die fast 60 Jahre währende Militärdiktatur unter Nasser, Sadat und Mubarak.

Die erste dieser Revolutionen führte zur zweiten parlamentarischen Demokratie auf dem afrikanischen Kontinent, bis diese durch die militärische Intervention einer ausländischen Macht zerstört wurde. Die Briten zwangen Ägypten danach unter eine räuberische Kolonialherrschaft, die über 70 Jahre währen sollte. Die zweite Revolution war ein nachhaltiger, breiter Aufstand, geführt von einem breiten Spektrum von Pro-Demokratie-AktivistInnen aus einer Vielzahl ziviler Einrichtungen. Obwohl er mit großer Brutalität unterdrückt wurde, zwang dieser Widerstand die Briten zu einigen Zugeständnissen. Die dritte Revolution in Ägypten offiziell gefeiert unterscheidet sich von den ersten beiden Aufständen massiv, sie war ein Militärputsch, der versuchte, eine breite Beteiligung des Volkes zu unterbinden. Breite Akzeptanz fand sie in dem Moment, in dem es gelang, die Macht des Königshauses, das 1881 abgesetzt und von den Briten wieder eingesetzt wurde, als diese sich aus Ägypten zurückzogen, endgültig zu brechen.
Neben diesen drei offiziell anerkannten Erhebungen haben sich die Ägyterinnen bei vielen weiteren Gelegenheiten gegen die Korruption, Gier und Grausamkeit ihrer Herrscher zur Wehr gesetzt. 1968 begannen Studenten große und mutige Proteste gegen die unterdrückerische Politik von Nassers Polizeistaat. In den frühen 70ern setzten sich Studenten mit nachhaltigen Massen-Protesten gegen die radikale politische Umorientierung des neuen Sadat-Regimes zur Wehr und zwangen den Staat, den militärischen Konflikt mit Israel wiederaufzunehmen. Am 18. und 19. Jänner 1977 erhoben sich die Menschen in Massen gegen die vom Weltwährungsfonds geforderten Sparmaßnahmen, die das korrupte, unfähige und skrupellose Regime von Anwar Sadat dem Land auferlegen wollte. Der ägyptische Präsident war schon in seinem Jet, um ins Exil zu fliehen, als die zentralen Sicherheitskräfte und das Militär doch noch die Oberhand behielten.

Ahmed Fouad Negm, vertont von Sheikh Imam: Die Hits des Jänners

Anfang der 90er eskalierten islamistische Proteste gegen die autoritäre Herrschaft Mubaraks in bewaffneten Konflikten, in den Slums der Großstädte ebenso wie im Süden des Landes. Die Gesamtliste des Widerstands ist eindrucksvoll nicht weniger als 10 große Revolten und Revolutionen in 130 Jahren. Auch wenn Kommentatoren mitunter einen anderen Eindruck erwecken: Die modernen ÄgypterInnen haben sich nie mit den gescheiterten kolonialen oder post-kolonialen Staatsformen abgefunden, die ihnen aufgezwängt wurden.
Viele dieser Revolten hatten ihre eigenen Dichter. Salah Jahin war einer der führenden Dichter der Revolution von 1952 mit seinen Gedichten, deren Sprache nahe an der Alltagssprache der Menschen waren, seine patriotischen Verse waren das Ausgangsmaterial für Abdel Halim Hafez, der seine Karriere nach Nasser ausrichtete. Aus dieser Periode sticht Fu’ad Haddad mit seinen Mawwals heraus die heute noch gesungen werden. Seit den 70ern ist es Ahmed Fouad Negm, der die führende Rolle als Lyriker der militanten Opposition gegen die ägyptischen Regierungen innehat. Seit vierzig Jahren elektrifizieren seine Gedichte viele von Sheikh Imam vertont die Studenten-, Arbeiter- und Dissidenten-Bewegungen der ägyptischen Unterschicht. Negms Gedichte reichen von Lob («madh») für die Courage der gewöhnlichen Ägypter bis zu Schmähungen («hija’») der ägyptischen Oberschicht. Es ist kein Zufall, dass seine Lieder von den linken AktivistInnen gesungen wurden, die an der Spitze des ersten Protestes am 25. Jänner 2011 standen. Neben diesen Dichtern könnten noch viele andere erwähnt werden Naguib Surur, Abd al-Rahman, Tamin Barghouti die auf ihre Weise zu dieser literarisch-politischen Tradition beigetragen haben.

Doch hinter diesen weithin bekannten Dichtern stehen tausende andere Poeten, allesamt Aktivisten, die es niemals wagen würden, öffentlich zu protestieren ohne ein reich bestücktes Arsenal von intelligent formulierten und gereimten Slogans. Das Ergebnis ist eine einzigartige literarische Tradition, deren Einfluss heute in ganz Ägypten festzustellen ist. Chronisten der aktuellen ägyptischen Revolte wie Asad oder AbuKhalil haben Listen dieser Reime zusammengetragen und hunderte weitere werden folgen. Meistens schöpfen diese Gedichte aus der Umgangssprache, sind extrem eingängig und sind leicht zu singen. Das Genre läßt mehr als genug Raum für Humor und Sprachwitz, was uns daran erinnert, dass eine Revolution auch eine Zeit zum Feiern und Lachen ist.

Bemerkungen zum zentralen Slogan des Tahrir-Platzes

Die Dichtung dieser Revolte lässt sich nicht rein auf die Texte reduzieren. Sie hat die Kraft, Botschaften zum Ausdruck zu bringen, die nicht in anderen Formen transportiert werden können. Schauen wir uns etwa den populärsten Slogan an, der von Tausenden auf dem Tahrir Platz skandiert wird: «Ish-shab/yu-rîd/is-qât/in-ni-zâm.» Das wäre als «Das Volk will, dass die Regierung stürzt» ins Deutsche zu übertragen, eine Übersetzung, die nicht einmal in Ansätzen einfängt, welche Kraft dieser einfache und komplexe Reim in seinem Kontext entfaltet. Es gibt tatsächliche poetische Gründe, warum ausgerechnet dieser Reim zum zentralen Slogan wurde. Zum einen ist er, anders als viele ironisch-humoristische oder bitterböse Reime ganz geradeaus und bringt alles vollständig auf den Punkt. Zum anderen verbindet seine Sprache ägyptische Alltagssprache mit dem medial gebräuchlichen Arabisch dadurch ist er dem riesigen arabischen Publikum, dass die Ereignisse verfolgt, ganz leicht verständlich. Dazu hat dieser Slogan wie alle anderen dieser Reime, die auf den Straßen gerufen werden, ein regelmäßiges metrisches und Betonungs-Muster: kurz LANG, kurz LANG, kurz LANG, kurz-KURZ-LANG). Wenn er auch anders als die meisten anderen Couplets nicht gereimt ist, kann dieser Slogan von tausenden Menschen in einer vereinten, klaren Kadenz gesungen oder gerufen werden ein Schlüsselfaktor dafür, warum dieser Slogan so gut funktioniert.

Der Ablauf dieser Revolte legt nahe, dass es bei diesen Couplets um mehr geht als nur um das Schaffen und Bündeln einer rein sprachlichen Bedeutung. Der Akt, mit einer großen Gruppe anderer BürgerInnen gemeinsam zu singen und zu skandieren, hat ein ganz bestimmtes und spürbares Gemeinschaftsgefühl geschaffen, das vorher so nicht existierte. Das Wissen, zu einer Bewegung zu gehören, die einem positiven kollektiven Ethos verbunden ist, entwickelt eine ganz eigene Kraft vor allem angesichts eines Regimes, das jegliche Opposition immer moralisch verunglimpft hat. Ebenso löst der Akt, gefürchtete Autoritäten mit gesungenen Schmähungen lächerlich zu machen, ganz unmittelbar etwas aus, weil zu lernen, über seine Unterdrücker zu lachen, die Voraussetzung dafür ist, die Angst vor diesen Unterdrückern zu verlernen. Das ist auch deshalb erstaunlich, weil an keinem Punkt der Revolution es möglich war zu sagen, dass das Volk siegen werde. Es existieren keine historischen Regeln oder vorhergehenden Beispiele von Revolutionen, die uns das mit Sicherheit sagen könnten.

Rainer Krispel übersetzte den Text aus dem Englischen. 

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