Erfindungen im Plattformkapitalismus
Technologische Innovation wird im Kapitalismus hoch gehandelt. Die großen Versprechungen, die dabei verkauft werden, ähneln sehr oft jenen der frühen Science-Fiction. Barbara Eder über Erfindungen von Perpetuum mobile bis 3-D-Druck.
Im Dezember 1907 beginnt der Schriftsteller und Satiriker Paul Scheerbart über die Zukunft von Maschinen nachzudenken. Einige Jahre davor war er noch damit beschäftigt, einen Mondroman zu verfassen, der 1902 im Insel-Verlag erschien: Die große Revolution. Seither gibt er sich mit dem Schreiben von kleinen «astralen Novelletten» zufrieden, für die von vornherein kein Verlag zu begeistern ist. Scheerbarts Sternenerzählungen finden auf weit entfernten Asteroiden statt, auf denen die Schwerkraft weniger stark wirkt als auf der Erde. Dies inspiriert ihn auch dazu, neue Maschinen zu imaginieren. Allein infolge der «perpetuierlichen Arbeitsleistung des Sternes Erde» sollen sie dazu fähig sein, alle ihre Aufgaben ohne menschliches Zutun zu erledigen. Scheerbarts erste Versuche, derartige Apparate herzustellen, datieren mit dem Jahr 1887; mit den dazugehörigen Konstruktions-zeichnungen beginnt er, der sich zu diesem Zeitpunkt selbst ein einfaches Leben in der Großstadt Berlin nicht mehr leisten kann, zwanzig Jahre danach.
Von der Erlösungsmaschine ….
Armut macht erfinderisch, notgedrungen. Bei der Herstellung jener Maschine, die wenigstens die eigene abschaffen hätte sollen, stößt Scheerbart auf erhebliche Widerstände. Sein Versuch, ein Perpetuum mobile zu konstruieren, erweist sich von Beginn an als schwierig – auch, weil er die Physiker_innen zu den verhassten Zeitgenoss_innen zählt und ein tiefergehendes Interesse für Mechanik nicht vorhanden ist. Scheerbarts Maschine soll aus unzähligen kleinen und größeren Rädern bestehen, die sich je nach Maß der Gewichtsauflage von selbst in die erwünschte Richtung drehen. Tags und nachts kombiniert er die Einzelteile und arbeitet hart daran, aus seiner Idee einen funktionierenden Apparat zu machen. Dabei bricht er unzählige Lötstangen auseinander und ändert die ursprüngliche Konstruktion permanent ab. Seine Arbeit wird dennoch von einem Versprechen angetrieben, dass größer nicht hätte sein können. Die «Erlösung der Menschheit von aller Arbeit» schwebt Scheerbart vor, er imaginiert eine Welt ohne Erwerbszwang und merkt in seinen Aufzeichnungen an, dass er insbesondere die Sozialdemokratie frühzeitig mit den Folgen seiner Erfindung konfrontieren müsse.
Am 2. Juni 1908 reicht Paul Scheerbart einen Antrag auf Patentierung des Perpetuum mobiles ein, nach einigen Änderungen am Modell wird dieser auch angenommen. Trotz anhaltender pekuniär schwieriger Lage bleibt Scheerbart optimistisch. Erst nach der Patentierung folgt die Ernüchterung. Scheerbart muss sich eingestehen, dass «die reale Wirklichkeit immer ganz anders» sei und kommt zu dem Schluss, dass die utopischen Versprechungen seiner Erfindung auch in nächster Zukunft nicht zu realisieren sein würden. Seine Erfindung sollte nicht annäherungsweise so universal einsetzbar sein wie von ihm erhofft. Das liebvoll auch als «Perpee» bezeichnete Perpetuum mobile würde der Menschheit künftig weder beim Abtragen von Bergen behilflich sein, noch würde es zur bislang kostengünstigsten und umweltschonendsten Variante der Fortbewegung für alle werden.
… zum Plattformkapitalismus.
Während erstere von Scheerbarts Ideen – das Abtragen von Bergen – von Expert_innen im Bereich des Climate Engineering heute ernsthaft angedacht wird, hielten die Widerstände der Industrie selbst dort an, wo seine Erfindung ein brauchbarer Ersatz für das Automobil gewesen wäre. Von der «Umwertung des Goldes» nebst des infolge der weltweiten Verbreitung seiner Universalerfindung ersehnten Totalkollapses des Geldsystems ist der krisengebeutelte Kapitalismus der Gegenwart jedoch auch ohne Perpetuum Mobile nicht allzu weit entfernt. Aufgrund seiner aktuellen Tendenz, sich auf die Verwertung von immateriellen Gütern und virtueller Handelsware zu stürzen, hat der kanadische Akzelerationismus*-Theoretiker Nick Srnicek diesen als Plattformkapitalismus bezeichnet. Im Gegensatz zu früheren Entwicklungsstadien konzentriert er sich nicht länger auf traditionelle Geschäftsformen; vielmehr besteht seine Ziel darin, Profite über Online-Dienstleistungen zu erzielen. Mittels Querfinanzierung – zuallererst durch Werbung und kostenlose, Daten generierende Vermietungsdienste, in näherer Zukunft vermutlich auch mit kostenpflichtigen Leih- und Lizenzgebühren – generieren globale Firmen Unsummen an Geld in Absehung vom direkten Verkauf materieller Güter. Wenn jemand die Folgen von Scheerbarts «Wunschmaschine» voraussehen hätte wollen, dann hätte er Luftschlösser wie diese imaginieren können müssen.
Und von der Erbse …
Der technokratisch ausgerichtete Plattformkapitalismus der Gegenwart liebt Erfindungen – vom Innovationswahn der Start-ups ist er genauso abhängig wie ein Vampir von der Einsaugung fremder Säfte. Großkonzerne konkurrieren heute intensiv um die Aneignung von kleinen Ideen, wie sie dazumal auch aus der Wohnküche des Berliner Autors kamen. Indem sie diese aufkaufen, versprechen sie sich am Markt entscheidende Vorteile. Ähnliches geschah auch mit einer Erfindung, der die britische Tageszeitung The Guardian im Jahr 2006 noch das Potenzial zubilligte, eine zweite industrielle Revolution heraufzubeschwören. Der 1952 in London geborene Mathematiker und Maschinenbauer Adrian Bowyer, der gemeinsam mit seinem Kollegen David Watson einen Algorithmus zur Berechnung von Voronoi-Diagrammen fand und damit die Voraussetzungen für den 3-D-Druck schuf, hatte mit seiner Erfindung ursprünglich auch nichts anderes im Sinn. 2005 gründete er das bis heute an der Universität von Bath ansässige Projekt RepRap project und verfolgt seither die Perfektionierung seiner Erfindung. Ihm schwebt eine Maschine vor, die sich aus sich selbst heraus vervielfältigen kann. Den dazugehörigen Prototypen erstellte er im September 2006.
Adrian Bowyers erster sich selbst replizierender 3-D-Drucker trägt den Namen Darwin. Schrauben, ein Schrittmotor, ein Mikrokontroller-Chip und Klebstoff sind bislang die einzigen Komponenten, die dieser nicht aus selbst heraus erzeugen kann. Mittels CAD-Zeichnung fertigte Bowyer einen Bauplan zum «Gebären ohne Uterus» an. 2009 ging daraus ein weiterer 3-D-Drucker namens Mendel hervor. Nicht durch Zufall ist er nach einem der prominentesten Vertreter_innen der Darwin’schen Evolutionstheorie benannt, dessen Ideen Bowyer mit denen des Marxismus verbinden wollte.
Die Erbsen-Experimente des Priesters Gregor Mendel waren allerdings alles andere als sozialrevolutionären Ursprungs, in manchen Kreisen gelten sie als sozialdarwinistisch. Diesem Verdacht muss sich auch Adrian Bowyer ausgesetzt sehen, wenn er auf der Wiki-Seite des RepRap-Projekts die Idee der maschinellen Selektion anpreist. Nur ein kleiner Teil der in der Natur vorkommenden Mutationen diente demnach einer tatsächlichen Verbesserung von Organismen; die Rapid-Prototyping-Maschine hingegen sei ein «Produkt des analytischen Denkens» und schlösse allein schon deshalb derartige Unwägbarkeiten aus.
… zum Automotor.
Auf Anklang gestoßen sind Erfindungen wie die des 3-D-Drucks nicht nur im Kontext der von den USA ausgehenden Repair-Bewegung; während diese Wissen demokratisieren will, das beim Reparieren von Wegwerfprodukten der Konsumgesellschaft erworben wird, haben sich auch andere der neuen Commons bemächtigt: Im Plattformkapitalismus ist Open-Source-Wissen längst zum Gegenstand neuer Geschäftsmodelle geworden. Die bestehenden Macht- und Besitzverhältnisse hat dies bislang nur bedingt verändert. Die im Internet unter General Public License zugänglich gemachten Erkenntnisse über Darwin und Mendel bilden auch die Basis für einen florierenden Geschäftszweig des US-Konzerns General Electric: Fast alle Teile seines meistverkauften Triebwerks lässt dieser heute mittels 3-D-Druck herstellen.