Die Rückeroberung der Zukunfttun & lassen

Warum uns Minen im Kongo jucken sollten

Die diesjährige Ausgabe des Festivals «Literatur im Herbst» eröffnete Milo Rau. Der Schweizer Filmemacher, Theaterregisseur und Hörspielautor zählt zu den explizit

politischen Künstler_innen, wovon auch seine Eröffnungsrede ein Zeugnis abgibt.

Foto: Alte Schmiede / Mehmet Emir (Milo Rau, der sich in seinem aktuellen Dokumentarfilm «Das Kongo Tribunal» mit dem Bürgerkrieg in dieser zentralafrikanischen Republik und den dabei nicht ganz schuldlosen internationalen Rohstoffkonzernen beschäftigt, eröffnete das Festival «Literatur im Herbst»)

Liebe Freundinnen und Freunde, die letzten zwei Wochen bin ich mit meinem aktuellen Film «Das Kongo Tribunal» – die Dokumentation eines zivilgesellschaftlichen Tribunals, das wir im ostkongolesischen Bürgerkriegsgebiet gegen die lokale Regierung, die UNO, die Weltbank und die großen multinationalen Rohstoffkonzerne durchgeführt haben – durch Deutschland, die Schweiz und Belgien gereist (einen österreichischen Verleih haben wir leider nicht, kommt aber vielleicht noch).

So gucke ich mir also jeden Abend von Neuem meinen Film über die kongolesische Minenindustrie an, und vermutlich geht es den meisten Regisseuren so: Der interessanteste Teil beginnt nach den Vorstellungen, nämlich wenn die Debatte mit den Zuschauerinnen und Zuschauern losgeht. Als wir den Film im Juli im Ostkongo in den Bürgerkriegsstädten und Minendörfern zeigten, überreichten die Zuschauer unseren Untersuchungsrichtern und mir, kaum war der Film vorbei, Beweisfotos und schriftliche Zeugenaussagen, sie berichteten vom weiteren Verlauf der Wirtschaftsverbrechen und Massaker, die wir in unserem Film dargestellt hatten – oder von ganz anderen Fällen, deren wir uns annehmen sollten. Denn seit 1996 sind im dortigen Bürgerkrieg, der in Wahrheit ein Krieg um das in der ostkongolesischen Erde liegende Coltan und Gold ist, mehr als sieben Millionen Menschen gestorben in über 1000 Fällen von Massenvertreibungen, Massenvergewaltigungen, oder einfach von – absichtlicher und planmäßiger – Unterversorgung.

Wenn wir unseren Film in Hamburg, in Berlin, in Brüssel, in Zürich oder in Genf vorführen, geschieht Vergleichbares: Die Zuschauer kommen zu uns, erzählen von ähnlichen Fällen, fast jede Schweizer, belgische, deutsche Firma ist in ein Verbrechen gleichen oder größeren Maßstabs verwickelt wie die zwei Firmen, die wir in dem Film porträtieren. Da fallen Namen wie Monsanto, Glencore, VW, KiK, und je länger man zuhört, desto stärker wird das Gefühl, dass wir alle in einem Alptraum leben, nur eben bei vollem Bewusstsein.

Der Alptraum erstreckt sich in die Zukunft. Der Titel dieser Rede lautet «Die Rückeroberung der Zukunft» – denn der Alptraum, von dem ich spreche, hat es an sich, dass er sich nicht nur in die Vergangenheit erstreckt, wie die üblichen Alpträume, von denen man in der Schule hört, sondern auch in die Zukunft. Lassen Sie mich das erklären. Um im Ostkongo eine Mine zu öffnen – also von der Entdeckung der Mine bis zu jenem Tag, an dem der Abbau mit allen Maschinen, Belüftungsanlagen, Unterkünften, Versorgungsketten usw. losgehen kann –, vergehen im Schnitt zwölf Jahre. Der finanzielle Aufwand dafür beträgt mehrere Milliarden Dollar, Kosten, die sich wegen des Bürgerkriegs oft zu einem Mehrfachen multiplizieren. Zum einen schränken diese Summen die Mitbewerber auf wenige europäische und nordamerikanische Firmen ein – im ostkongolesischen Minensektor gibt es beispielsweise nur eine einzige Firma, die Gold abbaut: die kanadische Firma ­BANRO, die in meinem Film «Das Kongo Tribunal» im Zentrum steht. Der Neoliberalismus, einst angetreten gegen staatliche Monopole, gefeiert als der große Befreier, verhasst als der große Deregulierer – denn aus der Zerschlagung der kongolesischen Minenindustrie durch die Weltbank in den 80ern ist BANRO, eine Investmentfirma, überhaupt erst ins Goldgeschäft gekommen –, der Neoliberalismus also steht heute nicht mehr für den freien Wettbewerb, sondern meint ein fast absurd monopolistisches System, das an die mittelalterliche Kirche erinnert – ein Wirtschaftssystem, das nicht nur von den Milizen lokaler Regierungen, sondern auch von den Regulierungs- und schließlich Ethik-Gesetzen europäischer und amerikanischer Parlamente gestützt wird, die mit absurden Auflagen die lokalen Produzenten in die Illegalität stoßen. Im Fall des 2010 vom amerikanischen Kongress verabschiedeten Dodd-Frank Act, eines Regulierungsgesetztes, das Kinderarbeit, die Arbeit von schwangeren Frauen etc. in kongolesischen Minen untersagte, verloren geschätzte zwei bis fünf Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Job in den Minen – denn die Mehrheit der arbeitenden kongolesischen Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt, die meisten jungen Frauen sind fast ständig schwanger. Dies schon mal als kleiner realpolitischer Link zum Thema der folgenden Tage, der «Dialektik der Befreiung»: Was dem europäischen Konsumenten, was den Parlamenten der westlichen Industrienationen ethisch erstrebenswert erscheint, ein Beitrag zum Schutz und damit zur Befreiung der Kinder und der Frauen im Kongo, ist ein Beitrag zu ihrer Verelendung, zu ihrer Versklavung unter dem Diktat der Rohstoffkonzerne und der Milizen.

Realismus – realistische Politik, realistische Kunst – kann also nur sein: jenen Stimmen zu lauschen, die Bescheid wissen – und damit die eigene Sicht der Dinge in Bewegung zu bringen. Was uns aus der Entfernung, eingeschlossen in unsere eigenen Logiken, richtig erscheint, ist oft komplett falsch. Kommen wir noch einmal zur ostkongolesischen Minenindustrie: Der springende Punkt ist nicht die Gier oder die Amoralität der Rohstoffkonzerne selbst – die kleinen Schürfer sind genauso gierig, und das zeigen wir auch in unserem Film –, sondern die komplexen Aktienfonds und Anlegerstrukturen, die hinter diesen Konzernen stecken. Denn können die investierten Milliarden – das hat mir ein Minenmanager von BANRO erzählt – nicht innerhalb von drei Jahren wieder amortisiert werden, bricht zuerst die Firma, dann der Fonds, dann die jeweilige Rohstoffbörse zusammen – und Europa, die USA stecken in einer Finanzkrise.

Die Zukunft ist verkauft.

Rette sich, wer kann, für alle Beteiligten: Da bleibt keine Zeit, um vor Ort Infrastruktur, Bildung, überhaupt irgendetwas Längerfristiges aufzubauen, denn an der Stabilität des Marktes hängt ja unser eigener Reichtum, der Reichtum unserer Wohlfahrtsstaaten – und damit letztlich unsere Demokratie. Entweder wir oder sie, entweder die Kongolesen oder die Europäer: Die Gegenwart ist zum einen, wie der britisch-indische Intellektuelle Pankaj Mishra sagt, universalisiert, wir befinden uns in einem einzigen Weltinnenraum, es gibt keinen Westen und keinen Osten, keinen Norden und keinen Süden, kein Außen mehr, alles ist verkoppelt in einem einzigen ökonomischen Zusammenhang, und wenn in Toronto der Goldpreis um fünf Prozent fällt, verlieren im Ostkongo 10.000 Schürfer ihren Job. Zum anderen ist unser Handeln komplett auf die Zukunft hin getaktet, oder anders ausgedrückt: Die Gegenwart, der ganze Glanz unserer Tage, der Alltag und letztlich der Sinn des Lebens von Milliarden von Menschen und Billiarden von anderen Lebewesen ist im Zeitalter des Finanzkapitalismus nur noch ein Übergangsraum, in dem die Zukunft sich zu realisieren hat. Denn die Zukunft ist verkauft, bevor sie stattgefunden hat – unsere, die Aufgabe der Zivilgesellschaft ist es, sie zurückzuerobern.

Was also tun? Ich denke, wir müssen anfangen, die lokalen und die globalen Kämpfe wieder zusammenzudenken, sie zusammenzuführen, in all ihrer Widersprüchlichkeit. Wir müssen die mühsame Arbeit des konkreten Universalismus tun, Schritt für Schritt. Was wir brauchen, ist eine Ästhetik, aber auch eine Politik der globalen Demokratie, die eben gerade nicht die Befreiung der einen auf Kosten der anderen, sondern die Solidarität aller in der Erkenntnis der geteilten Unfreiheit sucht. Anders ausgedrückt: Wir müssen es uns wieder zutrauen, uns selbst zu ermächtigen, wir müssen von der Immanenz wieder zur Transzendenz kommen, von der Psychopolitik zur Realpolitik, von der Reformation zur Revolution. Aus der Praxis des Widerstandes, des Protestes und der ästhetischen Reflexion muss wieder eine Herstellung eines neuen revolutionären Subjekts werden.

Und damit komme ich so langsam zum Ende, nämlich zu einem Entwurf dessen, was ich eine solidarische Befreiung nennen würde. Vor einigen Wochen also haben wir – gemeinsam mit über dreißig Organisationen – in Berlin ein Weltparlament, die sogenannte General Assembly durchgeführt, das wir in den kommenden Jahren weiter ausbauen werden, so hoffe ich. 70 Abgeordnete aus etwa 20 Ländern diskutierten über den Klimawandel, über internationale Diplomatie, über die Regulierungen des Welthandels, über nationale Souveränität, über die Grenzen der Meinungsfreiheit, über die Menschenaffen, die Ozeane, die Insekten, über die Bedeutung von Wörtern wie «Schutz» und «Sicherheit», über orthodoxe Tempel in Serbien und Textilfabriken in Bangladesh. In diesen drei Tagen entstand so etwas wie ein Subjekt, ein revolutionäres Subjekt, versammelte sich ein Globalparlament, ein Parlament nicht nur der Menschen, sondern auch der Tiere, der Dinge, und, wenn man so will: der Konzepte, der Ideen – das erste Weltparlament also nicht nur der Menschen, sondern auch aller nichtmenschlichen Akteurinnen und Akteure.

Die Legitimation der Revolution.

Wer hatte uns dazu ermächtigt? Niemand. Die Legitimation der Revolution – und das ist es, wozu ich hier aufrufe: zur Revolution der menschlichen Beziehungen, der sozialen Institutionen, der globalen Marktwirtschaft – die Legitimation der Revolution besteht darin, dass es legitimierte globale Institutionen nicht gibt. Sondern: Wie konntet ihr so gedankenlos, so gelähmt, ja: so verrückt sein, dass ihr es nicht längst getan habt? Wie konnte es sein, dass wir hier alle nicht längst eine Revolution angezettelt haben? Wie kann es sein, dass wir nicht längst die Parlamente dieser Welt, die Weltbank und die UNO-Vollversammlung gestürmt haben, so wie frühere Generationen die lokalen und elitären Institutionen ihrer Zeit stürmten?

Doch täuschen wir uns nicht: Die Revolution ist kein Ort des Konsenses – und wird es auch nie werden. Jedes Weltparlament, jede Befreiungsbewegung wird, gerade weil sie versucht, demokratisch zu sein, gemäß Tolstois Devise am Anfang von «Anna Karenina» auf ihre ganz eigene Weise unglücklich sein. Das glückliche Bewusstsein, wie noch Marcuse es suchte, das spielerische, fröhliche, einmütige revolutionäre Subjekt wird es nie geben.

Wir können noch so viele Kongresse zur «Dialektik der Befreiung» durchführen, wenn die daran nicht die teilnehmen, die tatsächlich den Preis für unsere Freiheit bezahlt haben und immer noch bezahlen. Denn der globale Kapitalismus ist, wie einst der Feudalismus Luthers, wie der Faschismus des Dritten Reichs, ein blindes Raubtier: Es stößt nicht einzelne, sondern Milliarden von Menschen, von Tieren, von Arten ins Vergessen, er begeht Genozide, täglich, stündlich und meist ohne, dass wir davon erfahren. Ja: Der Kapitalismus hat sich die Befreiung selbst auf die Fahne geschrieben, er hat das Wort der Revolution oktroyiert, nur hat er an die Stelle der Zärtlichkeit der Völker, nämlich der Praxis der Solidarität, den ewigen Hunger nach Konsum gesetzt. Und so geschieht, neben all den Genoziden an den Tieren und an den zukünftigen Generationen, neben dem Genozid realer und möglicher Lebensformen, auch das, was Marx den Genozid der lebendigen, realen, vorhergehenden Kulturen genannt hat – und mit der Vergangenheit, die in Tod und Vergessen versinkt, verschwindet auch deren Zukunft.

Die Herrlichkeit der Revolte besteht in ihrem Wissen um ihr Scheitern, um die Grenzen der Freiheit, um die Endlichkeit des Lebens und der letztlichen Vergeblichkeit aller Hoffnungen. Damit gibt sie der Verzweiflung, aber auch dem rebellischen «Trotzdem» Raum: dass man in den Kongo fährt und dort an einem Tribunal arbeitet, auch wenn am Ende nur drei Fälle von 1000 verhandelt werden. Dass man sich aussetzt, bis jeder Knochen im Leib zerschlagen ist, dass man am Ende zurückbleibt, erschöpft und von Wunden bedeckt.

Wir bedanken uns bei Milo Rau und dem Kunstverein «Alte Schmiede», die uns diese Rede, die hier nur stark gekürzt veröffentlicht werden konnte, zur Verfügung gestellt haben. Die Langversion können Sie auf www.alte-schmiede.at nachlesen oder auf youtu.be/dMRazRduxaE anschauen.