Die Straßen als öffentlicher Raumvorstadt

In vielen Städten werden Straßen als öffentlicher Raum abseits des motorisierten Verkehrs wiederentdeckt und genutzt. Wie sieht die Situation in Wien aus?

Text: Lisa Puchner, Foto: space-and-place/Ákos Burg

Einmal trippelt eine Familie den Basketball über die Asphaltfläche, ein anderes Mal schupfen sich Kinder Tennisbälle zu. Viele erproben ihre ersten Meter auf dem Skateboard oder Fahrrad. Die Parkfläche vor einer aufgrund von Covid-19 geschlossenen Bowlinghalle im 17. Bezirk wurde während des Lockdowns von Anwohner_innen kurzerhand zum Aufenthaltsort umfunktioniert. Wo sonst Autos die Fläche verstellen, bot sich genügend Platz zum abstandsicheren Verweilen. Hier zeigt sich das starke Bedürfnis nach öffentlichen Freiräumen in der direkten Nachbarschaft – und sei es ein leerer Parkplatz. Dies ist nicht erst seit Covid-19 so, nur wurde es aufgrund der eingeschränkten Bewegungsfreiheit im Lockdown umso deutlicher. Wien mit dem Image der lebenswerten Stadt hat mit Wienerwald, Donauinsel und Stadtgärten nicht wenig Grün- und Bewegungsraum. Allerdings wohnen nicht alle in Fußdistanz zu Park oder Prater, zudem haben viele Menschen einen eingeschränkteren Mobilitätskreis wie Kinder oder manch ältere Leute. Platz für ein selbstständiges und angenehmes Verweilen im Freien gäbe es, doch wird dieser vorwiegend für den Autoverkehr oder das Abstellen der Fahrzeuge genutzt. Lebenswerte Stadt für alle heißt aber: attraktive öffentliche Räume in unmittelbarer Wohnungsnähe, Frei- und Grünräume über die gesamte Stadt hinweg sowie sichere Wege durch die Stadt. Und hier geht es letztlich darum, Straßen als öffentlichen Raum wahrzunehmen und entsprechend zu gestalten.

Autogerechte Stadt.

Bereits 1975 entwickelte Hermann Knoflacher, Professor am Institut für Verkehrswissenschaften der Technischen Universität Wien, sein «Geh-Zeug». Dieses umhängbare Gestell für Fußgänger_innen in Größe eines PKWs veranschaulicht, wie verhältnismäßig viel Platz ein privates Auto einnimmt. Diese Vormachtstellung des motorisierten Individualverkehrs ist auch mit dem Schlagwort der autogerechten Stadt aus den 60ern verbunden. Als damals zukunftsweisende Idee wurden Städte umgebaut, Autostraßen errichtet, Straßenbahngleise herausgerissen. Die Entwicklung in Wien war etwas langsamer; einige Linien blieben bestehen, eine Stelzen-Gürtel-Autobahn und andere Pläne im Sinne des Paradigmas wurden nicht umgesetzt, so Barbara Laa, vom Institut für Verkehrswissenschaften und Teil der Initiative Platz für Wien. Dennoch ist die autogerechte Stadt in Wien nach wie vor in der Stadtgestaltung, Straßenverkehrsordnung und den Köpfen – auch vieler Entscheidungsträger_innen – verankert. «Wir denken oft weniger für die Menschen, sondern mehr für die Autos: Die Autos brauchen Platz, und die Menschen haben dann irgendwo daneben Platz. Man sollte das Ganze einmal umdrehen», meint Brigitte Vettori von der Stadtinitiative space and place, die sich unter anderem seit drei Jahren mit Wohnstraßen und deren Nutzung abseits des motorisierten Verkehrs beschäftigt.

Hula-Hoop und Kaffee auf der Straße.

Hula-Hoop, ein Klapptisch für eine Runde Schach, Federballspielen, Laufen – das alles und mehr ist auf einer Wohnstraße erlaubt. 1983 eingeführt und gekennzeichnet durch ein blaues Schild mit Haus, Straße und zwei Fußball spielenden Figuren ist in der Wohnstraße nur das Zu- und Abfahren gestattet, der Durchzugsverkehr ist verboten. Ausgenommen sind der Fahrradverkehr, der auch gegen die Einbahn möglich ist, sowie Fahrzeuge des öffentlichen Dienstes. Es gilt Schritttempo, Betreten der Fahrbahn und Spielen ist erlaubt. Doch nur wenige wissen darüber Bescheid, so Brigitte Vettori. Um das Bewusstsein hinsichtlich der zirka 190 Wohnstraßen in Wien zu erhöhen, erprobt space and place mit Nachbarschaften und Kooperationspartner_innen, was alles im Rahmen der legalen Nutzung ohne weitere Genehmigung auf diesen Straßen möglich ist: Sei es ein Rollator-Parcours als sportliche Aktion für ältere Menschen und Austausch zwischen den Generationen oder ein kurzerhand nach außen verlegtes Wohnzimmer auf einem Parkplatz. Um gestalterisch stärker auf die Nutzungsmöglichkeiten hinzuweisen, initiierte space and place nun mit Unterstützung des 15. Bezirks die permanente Bemalung der Wohnstraße Markgraf-Rüdiger-Straße/Langmaisgasse mit Blumen. Mitte Juni rief die Stadtinitiative hier auch das erste «Wohnstraßen-Grätzel» hinter der Stadthalle aus, wo sich in nächster Umgebung gleich sieben Wohnstraßen befinden. Inspiriert ist das Wohnstraßen-Grätzel von den «Superblocks» in Barcelona; dabei sind mehrere Häuserblocks zugleich für den Durchzugsverkehr gesperrt, die Straßen dienen den Anwohner_innen als Aufenthaltsraum. Um ähnlich die «erwachende Kultur des Wohnstraßenlebens zu ermöglichen und die Sichtbarkeit von Wohnstraßen zu erhöhen, sind Maßnahmen wie die Bemalung, permanente Sitzgelegenheiten oder bauliche Veränderungen notwendig», so Vettori.

Flächengerechte Stadt.

Wenn auch größtenteils noch nicht entsprechend gestaltet, sind Wohnstraßen also potenzielle Freiräume für Anwohner_innen. Wie sieht es aber mit den restlichen Verkehrswegen Wiens aus? Während in Wien 27 Prozent der Wege mit dem Auto zurückgelegt werden, sind rund 67 Prozent der Wiener Verkehrsflächen dem Autoverkehr gewidmet, rechnet die unabhängige Bürger_innen-Initiative Platz für Wien auf ihrer Website auf Basis von Daten der Stadt Wien und dem Wiener Linien Modal Split 2019 vor. Dieses Missverhältnis zugunsten des Autoverkehrs soll nach der Initiative in attraktive Straßen zum Gehen und Verweilen, in Flächen für sicheres Radfahren und sichere Schulwege sowie in Platz für mehr Bäume im Straßenraum und höhere Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum verwandelt werden. Mit 18 entsprechenden Forderungen versucht Platz für Wien bis zur Wien-Wahl im Oktober 57.255 Unterschriften (das Stimmenziel eines Volksbegehrens laut Wiener Stadtverfassung) zu sammeln. So soll in Hinblick auf die nächste Stadtregierung ein klares Bekenntnis zu einer «klimagerechten, kindergerechten, flächengerechten Stadt» abseits parteipolitischer Grenzen erwirkt werden. Seitens der Stadt gibt es bereits sinnvolle Konzepte zur Verkehrsberuhigung. Allerdings wurde bisher wenig oder nur ein «Fleckerlteppich» wie die Fahrradinfrastruktur umgesetzt. Es benötige eine größere Kooperation zwischen Bezirken, in deren Händen die Kompetenzen der Verkehrsplanung liegen, und Stadt, die in Hinblick auf gesamtstädtische Ebene Strategien entwickelt, so Barbara Laa, eine Sprecherin der Initiative.

Straßen für alle.

Verkehrsberuhigung seitens eines einzelnen Bezirks habe dennoch über die konkreten Zonen hinweg Effekte. Die Vorstellung, Verkehr verhalte sich wie Flüssigkeit und weiche aufgrund einer Sperre in anschließende Gebiete aus, sei weit verbreitet, erklärt Laa. Dies könne tatsächlich passieren. Auf lange Sicht gingen Verkehrsberuhigungen aber mit einer Verhaltensänderung einher und es würde auf andere Verkehrsmittel umgestiegen, so Laa: «Der Verkehr löst sich auf.» Dies sei umso wirkungsvoller, sobald Nachbarsbezirke ebenfalls Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung setzen. So klar die soziale und ökologische Notwendigkeit eines Umdenkens in der Straßennutzung ist, so emotionalisiert wird aber derzeit über Verkehrsberuhigung und reduzierte Parkplätze diskutiert oder – auch von den Medien – ein vermeintlicher Kampf zwischen Auto und Rad forciert. Tatsächlich sind Menschen multimodal, mit verschiedenen Verkehrsmitteln, unterwegs: «Menschen wollen sich einfach von A nach B bewegen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen», betont Barbara Laa. Und dies soll für alle gleichermaßen ermöglicht werden. Allerdings bedeutet eine Abkehr von der Ausrichtung auf den Autoverkehr auch Verlust von Privilegien für das Auto. Letztlich geht es bei Platz für Wien oder dem «Wohnstraßenleben» von space and place auch darum, das Ungleichgewicht zugunsten des Autoverkehrs mit dessen sozial und ökologisch schwerwiegenden Folgen umzukehren. Und so die Straße wieder als tatsächlich öffentlichen Raum für eine gleichberechtigte Teilhabe aller Stadtbewohner_innen zu gewinnen.

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