Als 2000 Bicycles durchs Marchfeld fuhren
Am 28. Mai 1899 wurde der erste österreichische Radfahrweg eröffnet. Er führte auf einer Strecke von mehr als 20 Kilometern von Floridsdorf über Deutsch-Wagram nach Bockfließ. Anton Tantner rollt dessen Geschichte auf.
Foto: Museum Deutsch-Wagram
Das 1959 an der Deutsch-Wagramer Karl-Renner-Siedlung angebrachte Sgraffito «Am Rennweg» zeigte ein 1899 schon nicht mehr gebräuchliches Hochrad
Es war ein großes Trara, als sich am letzten Sonntag im Mai des Jahres 1899 in Floridsdorf hunderte Radfahrer und Radfahrerinnen versammelten, um an der feierlichen Eröffnung des neuen Radwegs nach Bockfließ teilzunehmen. Fast alle waren sie im Galadress in die damals noch nicht zu Wien gehörige Gemeinde gekommen, der in den Zeitungen vorab verkündete Treffpunkt befand sich am Beginn der Abzweigung der Angerer Bezirksstraße, wo eigens eine Ehrenpforte errichtet worden war, mit Tannenreisig umwunden und reich bewimpelt.
Gegen neun Uhr vormittags trafen schließlich auch die Ehrengäste ein, hochrangige Politiker, die in ihren Ansprachen die segensreichen Auswirkungen des Fahrrads betonten und es ob seiner Funktion als sicheres und billiges Verkehrsmittel «für alle Classen der Bevölkerung» lobten. Tatsächlich befand sich damals, circa zehn Jahre, nachdem das Niederfahrrad mit Stahlrahmen und Luftreifen das Hochrad abzulösen begonnen hatte, die Fortbewegung mittels Zweirad auf dem Weg zum Massenphänomen: Kostete ein Rad zwar noch mehrere Arbeiter_innen-Monatslöhne, so hatte sich doch erst ein Monat zuvor in Ottakring der «Verband der Arbeiter-Radfahrvereine Österreichs gegründet», des Weiteren sinnierte die Presse über den Beitrag des Rads zur Frauenemanzipation.
Hierarchischer Konvoi
Bei der Eröffnung in Floridsdorf ging es allerdings keineswegs egalitär zu, als der ein Kilometer lange Konvoi endlich losziehen konnte, war dieser strikt hierarchisch angeordnet: Die Ehrengäste sprinteten auf ihren Gefährten flott voran, ihnen folgten die Fahrer_innen des «Wiener Bicycle-Clubs», «9 Damen und 45 Herren», um genau zu sein, zuzüglich vier Clubdiener.
Dieser Wiener Bicycle-Club (WBC) war der mondänste aller Wiener Radfahrvereine, ihm gehörten hohe Beamte, Industrielle, Kaufleute sowie Adelige an, er hatte auch den Radweg in Kooperation mit der niederösterreichischen Regierung finanziert. Pech nur, dass sich der Verein damit übernommen zu haben scheint, mit ein bisschen Phantasie ließe sich aus den einsetzenden finanziellen Turbulenzen und kurz aufeinander folgenden Demissionierungen der Clubpräsidenten ein spannender Wien-Krimi drechseln.
An jenem Mai-Sonntag waren diese Kalamitäten aber noch nicht publik, und im Anschluss an den WBC fuhren die Mitglieder der weiteren Vereine – mehr als vierzig davon zählte das über das Großereignis berichtende «Neue Wiener Tagblatt» auf –, zu guter Letzt kamen die nicht vereinsmäßig organisierten Fahrer_innen.
Feierlich waren die begeisterten Empfänge in den Ortschaften auf der Strecke, der zwar zugestanden wurde, «nicht reich an Naturschönheiten» zu sein, aber wenigstens ein bislang für Räder fast unfahrbares Gebiet zu erschließen. Die Route führte über Leopoldau, Süßenbrunn und Aderklaa zunächst nach Deutsch-Wagram, wo nicht nur Gemeindevertretung und Feuerwehr aufmarschierten, sondern darüber hinaus der Gesangsverein mitsamt Kapelle fröhliche Weisen intonierte. Zur Mittagszeit wurde das Ziel der Reise, das reich beflaggte Bockfließ erreicht; auch dort spielte die Musik auf, am Heimweg lud noch der Süßenbrunner Gutsbesitzer auf seinem Anwesen zum Empfang ein.
Bis 16 Uhr waren auf der Strecke beim an der Abzweigung nach Kagran gelegenen Mauthaus exakt 1541 Radfahrer_innen gezählt worden, für den gesamten Tag schätzten die Zeitungen deren Zahl auf bis zu 2000 an, wozu vier Automobile kamen, die damals noch als «Verbündete der Radfahrer» galten und im Vergleich zu anderen Großstädten nur zögerlich begannen, die Wiener Straßen zu erobern.
Heute erinnert kaum mehr etwas an diesen mit so viel Pomp eröffneten Radweg außer einigen schriftlichen Zeugnissen: Karl Kraus, auch sonst dem Bicyclismus gegenüber eher distanziert eingestellt, bedachte in seiner «Fackel» die beteiligten Politiker mit ein paar ätzenden Bemerkungen, das Gästebuch des einstigen Deutsch-Wagramer Radfahrerwirtes «Zum Bienenstock» verzeichnet für die folgenden Jahre ein paar Einträge von einkehrenden Mitgliedern des Radfahr-Clubs «Regent» sowie des «Verbandes der christlichen Radfahrer».
Immerhin, dank der peniblen Presseberichterstattung ist die Ausführung des entlang der damals erneuerten Floridsdorf-Angerer Bezirksstraße verlaufenden Wegs recht genau bekannt: Er war 1,7 bis 2 Meter breit, und zum Schutz vor Fuhrwerken steckten im Abstand von je zehn Metern Schleuderpflöcke im Boden. Ein Teil der Strecke war mit Kohlenlösche überzogen, ein anderer mit Grubensand hergerichtet, während auf der letzten, sieben Kilometer langen Etappe von Deutsch-Wagram nach Bockfließ die «rennbahnartigen Banquetten» der Bezirksstraße «jedes Radfahrers Herz höher schlagen» ließen, wie es der «Bicyclist», die Vereinszeitung des WBC stolz vermeldete.
Tatsächlich firmierte dieser Teil der Strecke, die Bockfließer Straße bei den Bewohner_innen von Deutsch-Wagram noch mehrere Jahrzehnte unter der Bezeichnung «Rennweg», und 1959 wurde an der Karl-Renner-Siedlung ein «Am Rennweg» benanntes, vom Maler Sepp Zöchling gestaltetes Sgraffito angebracht, das an den einstigen Radweg erinnerte. Seit der thermischen Sanierung der Siedlung in den 1990er-Jahren ist es verdeckt, nur in den Ortschroniken haben sich ein paar Aufnahmen davon erhalten.
Die Kavallerie benützte auch den Radweg
Zum Zeitpunkt der Eröffnung der Route Floridsdorf – Bockfließ existierten bereits andere Radwege, nicht zuletzt der am Hubertusdamm von der Reichsbrücke nach Langenzersdorf verlaufende Kielmannseggweg. Der neue Weg war allerdings der erste, der unter der Obhut des Landes und der Gemeinden stand, was auch dessen Erhalt garantieren sollte. Letzteres war nur zu nötig, da es wiederholt vorkam, dass die Kavallerie – widerrechtlich – den Weg benützte und somit für Radler_innen unpassierbar machte; zumindest in einem Fall hatte dies eine erboste Eingabe an den niederösterreichischen Landtag zur Folge, auch ansonsten gesetzestreue bürgerliche Radfahrer_innen konnten in solchen Fällen einen gewissen Groll gegen selbstherrliche kakanische Militärs nicht verbergen.
Unbill drohte auch von der radfahrskeptischen Bevölkerung: Es war eigens erwähnenswert, wenn diese, wie zum Beispiel in Leopoldau, «sehr gemüthlich und äusserst radfahrerfreundlich» eingestellt war, sonst wurden Radfahrer_innen außerhalb Wiens zuweilen mit Fäusten, Steinen und gar Messern attackiert. Knapp zwei Monate nach der Eröffnung des Radwegs eskalierte eine solche Auseinandersetzung, als zwei Radler am Rückweg knapp nach Süßenbrunn in einen Streit mit circa 20 betrunkenen Fußgängern gerieten, die den Weg nicht frei machen wollten und die Radfahrer zum Sturz brachten. Bei der darauf einsetzenden Schlägerei – damals ein regelmäßig des Sonntags stattfindendes Spektakel, wie zumindest die «Arbeiter-Zeitung» vermerkte – wurde ein zunächst gar nicht beteiligter Bewohner aus Süßenbrunn erstochen, was in der Radfahrgemeinde Wiens einen regelrechten Schock auslöste. Der neue Radweg stand also unter keinem guten Stern, was dazu beigetragen haben mag, dass die Erinnerung an ihn weitgehend verloren ging.